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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Die Ehelüge

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Solche Synthese zwischen libertärer Pose und autoritären Idea­len ist nur möglich auf Kosten der Frau. Aber von der Frau spricht Nordau ja gar nicht, er spricht, wie noch Generationen deutscher Männer nach ihm und wie auch die an ihn anschließenden und die Misogynie ins Prinzipielle erhebenden Autoren Weininger und Möbius 58 , vom »Weib«. Was im übrigen sprachlich ganz im Ein­klang mit seiner darwinistischen Weltanschauung ist, nach der die Funktion des Weibchens auch bei den höheren Tieren das Gebären ist. Das Weib hat in diesem autoritären, naturwissenschaftlich ver­kleideten Männerdiskurs nur eine Daseinsberechtigung - Gebären. Der patriarchale Männerdiskurs hat die Methode und die Taktik gewechselt: Die sozialdarwinistische löst die jüdisch-christlich- muslimisch-religiöse Gebärpflicht ab. Daß Nordau dann sogar die Existenz der alten Jungfer bekämpft und, sicherlich in Erinnerung an seine Schwester Lotti, deren Verlust für ihre natürliche Funk­tion, das Gebären in der Zuchtwahl-Ehe, beklagt, gehört dann schon wieder zu den unfreiwillig komischen Seiten des Buches. Aber komisch ist Max Nordau zeitlebens nur unfreiwillig. Für Humor oder gar Selbstironie war er nicht bekannt.

Selbsterhaltung und Gattungserhaltung seien die vorherrschen­den natürlichen Triebe des Menschen, beginnt Nordau seine Aus­führungen. Es sei ein Zeichen der »Erschöpfung der Gattungs-Vita­lität«, wenn in manchen Kulturnationen der »Gattungsakt« nicht mehr der Fortpflanzung und damit der Gattungserhaltung diene, sondern nur noch dem Vergnügen der Individuen. Die Ehe in ihren verschiedenen Formen habe in allen Kulturen und Gemeinwesen von Anfang an deshalb öffentliche Anerkennung gefunden, weil sie ursprünglich der Erhaltung des Gemeinwesens, des Stammes, des Volkes oder der Gattung diente. Nur in den modernen Kulturnatio­nen ist sie zur Lüge pervertiert, denn in der modernen Ehe streben die Gatten nicht mehr nach Begattung zwecks Fortpflanzung, son­dern nach Befriedigung ihres Egoismus, nach Vermögen, nach ge­sellschaftlichem Rang und Privilegien . 59

»Man denkt bei der Eheschließung an alles: an den Salon und

58 Paul J. Möbius, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, 8. Aufl. Halle 1905; Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, Wien 1903.

59 S. 309-315.