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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Die Ehelüge

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Laufbahn und sein einziges Lebensgeschick angewiesen. Es darf nur in der Ehe die Befriedigung all seiner engeren und weiteren physiologischen Bedürfnisse erwarten. Es muß heiraten, um zur Ausübung seiner natürlichen Rechte eines voll ausgebildeten, geschlechtsreifen Individuums zugelassen zu werden, um die Weihe der Mutterschaft empfangen zu dürfen, aber auch einfach um vor materiellem Elend geschützt zu sein .« 63

Den »Weihen« der Mutterschaft (hier entgleitet dem Atheisten Nordau bezeichnenderweise nach dem »Heiligtum« des Schlaf­zimmers schon wieder eine religiöse Metapher) wenig hilfreich sind besonders zwei Bevölkerungsgruppen, die nie heiraten: die alten Hagestolze, die als alternde Lüstlinge Maitressen und Bordelle fi­nanzieren, und die alten Jungfern, für die Nordau warme Worte findet. Die alten Jungfern haben nicht nur Hohn und Spott zu ertra­gen, sondern bekommen auch die soziale und ökonomische Not am härtesten zu spüren. In ihrer »lebenslänglichen Einzelhaft« paaren sich »Schwermuth über ein verfehltes Dasein« und Ar­mut . 64 Um sie und schon junge, unverheiratete Frauen davor zu schützen, sich in einer Ehe ohne Neigung oder in Prostitution zu verschachern, schlägt Nordau vor, unverheiratete Frauen seitens des Gemeinwesens finanziell so zu unterstützen, daß sie aus Nei­gung heiraten können . 65

Nordau zu Ehren muß erinnert werden, daß er, wenn auch oft widerwillig, seine Schwester lebenslang genau auf diese Weise fi­nanziell unterstützt hat. Sie war, obschon es Kandidaten gab, nie zu einer reinen Versorgungs- und Zweckheirat gezwungen. Nordaus Widerwille gegen Mitgiftjäger ist indessen so ausgesprochen groß , 66 daß wir annehmen können, daß er seiner Schwester nie die allge­mein übliche Mitgift gestellt hat oder gestellt hätte - was in den meisten Fällen eine Heirat von vornherein unmöglich machte.

Aber auch hier ist Nordaus Vorschlag symptomatisch. Er fordert staatliche Fürsorge für unverheiratete Frauen mit dem Zweck von Heirat und Mutterschaft, nicht berufliche und soziale Selbständig­

es S.334.

64 S. 335-337.

65 S.373.

66 Vgl. S.315-324 u.ö.