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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Die Ehelüge

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einer niedereren Race - denn der Mann ist für den Kampf ums Dasein besser ausgerüstet als das Weib (...)« 70

Ziel der »Emancipationsprediger« sei es, dem Weibe zu ermög­lichen, ohne Mann und Ehe zu leben. Das aber gefährdet die Fort­pflanzung der Gattung und ist für Nordau deshalb unannehmbar. Das Weib hat als Gebärerin in einer genetisch förderlichen Ehe zur Verfügung zu stehen. Es soll seinen Mann aus Neigung wählen, hat aber nicht die Möglichkeit, keinen Mann, ein Dasein als Lesbe oder gar Kinderlosigkeit zu wählen. In solch darwinistischer Ehemoral hat die Frau unweigerlich Reproduktionsfunktion und es ist darum, so Nordau großmännisch ,»Pflicht der Gesellschaft, ihre Frauen, ihr kostbarstes Zuchtmaterial, vor physischer Entbehrung zu schützen «. 11

Bis in die gesellschaftliche Rollenverteilung setzt sich die biologi­stische Attitüde durch. Würde ein Staat Nordaus neue, darwinisti- sche Ehemoral übernehmen, zum Gesetz machen und durch seine Bürger exekutieren lassen, würde Erhaltung und Verbesserung des »Zuchtmaterials« zum Staatsziel; Frauen würden als Gebärma­schinen funktionalisiert. Nordau hat das, dies sei hier ausdrück­lich festgestellt, nicht gefordert, aber seine Sprache und Weltan­schauung lassen sich ohne jede Umstände für solche Staatszwecke beleihen. Dann wird, wie Helmuth Plessner es genannt hat, die dar- winistische Biologie mit staatlicher Hilfe »autoritär «. 72 Jeder biolo­gistische Diskurs, der die Rolle der Frau auf die des »kostbarsten Zuchtmaterials« und der Gebärerin einengt, kann, wir wissen das heute aufgrund historischer Erfahrungen besser als Nordau, durch staatliche Intervention und Autorität direkt zum »Lebensborn« und zur Verleihung von Mutterkreuzen führen, verliehen, >natür- lich<, von einem Mann. Nordau, um es noch einmal zu sagen, ist nicht dafür, sondern nur für den Text verantwortlich, den er schrieb. Und der, in seiner Mischung von Darwinismus, Männer- Rhetorik und Kitsch, ist schlimm genug:

»Die Rolle des Mannes im Gattungsleben ist die des Brod-

70 S. 371.

71 S.372.

72 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation (1934/35), Frankfurt/M. 1974, S. 144-164.