Druckschrift 
Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
Seite
152
Einzelbild herunterladen

152

Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit

erwerbers, des Erhalters und Verteidigers der lebenden Genera­tion; die Rolle des Weibes ist die einer Erhalterin der Art, einer Vertheidigerin der künftigen Generation, einer Veredlerin der Gattung durch die Zuchtwahl, indem sie unter den Männern den Kampf anregt, dessen Preis sie ist und in dem die tüchtigsten Streiter die kostbarste Beute davontragen .« 73

Schlußharmonie

Die Schlußharmonie von Die conventioneilen Lügen der Kultur­menschheit klingt, im wahrsten Sinne des Wortes, nach Zukunfts­musik. Denn die Gegenwart wird von Nordau als zutiefst dissonant empfunden: Dissonanz herrscht zwischen der naturwissenschaft­lichen Weltanschauung und den gesellschaftlichen Institutionen, zwischen der Wahrheit empirischer Erkenntnis und den altherge­brachten Lügen der Kultur. Die Institutionen und die Kultur des alten Europa sind, wir gehen auf ein Fin de siede zu, überlebt und (Nordau ist ein Zeitgenosse des Baron Haussmann) vom Abriß be­droht. »Wir stehen (...) mitten in dieser Demolitionsepoche und erleiden all ihr Ungemach .« 74 Der wache Beobachter dieser Demo­litionsepoche kann nur ihre »geistige Obdachlosigkeit« feststellen (das erinnert an die Metaphorik eines deutschen Philosophen nach einer späteren Demolitionsepoche).

In dieser geistigen Situation hilft, so Nordau, nicht der Rückgang in irgendeinen heilen Ursprung, sondern nur die Flucht nach vorn. »Die Umkehr ist unmöglich, der Stillstand ist es auch. Man kann nur vorwärts gehen. (...) Das ist eine Frage der natürlichen Ent­wickelung und des organischen Wachsthums .« 75 Die Fortentwick­lung wird die Menschheit edler und besser machen, ihr steht Erhe­bung, nicht Erniedrigung bevor. Nordau ist Fortschrittsoptimist auf darwinistischer Grundlage. »Die Menschheit ohne Gott, ohne

73 Nordau, Die conventionellen Lügen, S. 372.

74 S.414.

75 S. 408.