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Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit
erwerbers, des Erhalters und Verteidigers der lebenden Generation; die Rolle des Weibes ist die einer Erhalterin der Art, einer Vertheidigerin der künftigen Generation, einer Veredlerin der Gattung durch die Zuchtwahl, indem sie unter den Männern den Kampf anregt, dessen Preis sie ist und in dem die tüchtigsten Streiter die kostbarste Beute davontragen .« 73
Schlußharmonie
Die Schlußharmonie von Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit klingt, im wahrsten Sinne des Wortes, nach Zukunftsmusik. Denn die Gegenwart wird von Nordau als zutiefst dissonant empfunden: Dissonanz herrscht zwischen der naturwissenschaftlichen Weltanschauung und den gesellschaftlichen Institutionen, zwischen der Wahrheit empirischer Erkenntnis und den althergebrachten Lügen der Kultur. Die Institutionen und die Kultur des alten Europa sind, wir gehen auf ein Fin de siede zu, überlebt und (Nordau ist ein Zeitgenosse des Baron Haussmann) vom Abriß bedroht. »Wir stehen (...) mitten in dieser Demolitionsepoche und erleiden all ihr Ungemach .« 74 Der wache Beobachter dieser Demolitionsepoche kann nur ihre »geistige Obdachlosigkeit« feststellen (das erinnert an die Metaphorik eines deutschen Philosophen nach einer späteren Demolitionsepoche).
In dieser geistigen Situation hilft, so Nordau, nicht der Rückgang in irgendeinen heilen Ursprung, sondern nur die Flucht nach vorn. »Die Umkehr ist unmöglich, der Stillstand ist es auch. Man kann nur vorwärts gehen. (...) Das ist eine Frage der natürlichen Entwickelung und des organischen Wachsthums .« 75 Die Fortentwicklung wird die Menschheit edler und besser machen, ihr steht Erhebung, nicht Erniedrigung bevor. Nordau ist Fortschrittsoptimist auf darwinistischer Grundlage. »Die Menschheit ohne Gott, ohne
73 Nordau, Die conventionellen Lügen, S. 372.
74 S.414.
75 S. 408.