Schlußharmonie
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Herrscherwillkür und ohne Egoismus wird unendlich sittlicher sein ...« 76 Wie das vonstatten gehen soll, regeln nicht Freiheit, Moral und Reflexion des Menschen, sondern, ob er will oder nicht, die Evolution der Natur. Die Aufklärung ist der Evolution gleichgeschaltet, die Entwicklung des Wissens bestätigt nur die Gesetze der Evolution und vollzieht sich innerhalb der allgemeinen Evolution gleichsam als Naturvorgang. Deshalb ist die Aufklärung unaufhaltsam. Sie lehrt den Menschen neue Wahrheiten, darunter Nordaus darwinistisches Glaubensbekenntnis:
»Du bist ein Einzelthier in einer Thiergattung, Menschheit genannt. Dich regieren genau dieselben natürlichen Gesetze wie alle anderen Lebewesen. Dein Platz in der Natur ist der, den du dir durch passende Benutzung aller in deinem Organismus vorhandenen Kräfte erobern kannst .« 77
Die Aufklärung schneidet den Menschen vom Himmel ab, bekämpft seinen hypertrophen Anspruch auf ewiges Leben, zerstört die Religion und lehrt die Menschheit eine neue »Solidaritätsmoral«. Der Imperativ dieser Solidaritätsmoral, mit der Nordau sein Buch abschließt, lautet: »Thue Alles, was das Wol der Menschheit fördert; unterlasse Alles, was der Menschheit Schaden oder Schmerz zufügt .« 78 Das Gut und Böse der überholten jüdischchristlichen Moralvorstellungen wird abgelöst durch die Unterscheidung von Gut und Schlecht, Nützlich und Unnütz. Es sind nicht mehr bestimmte Handlungsweisen per se als gut oder böse definiert, sondern beliebige Handlungen werden als gut oder schlecht in Hinsicht auf ihre Nützlichkeit für das allgemeine Wohl unterschieden. »Gut ist, was, wenn es verallgemeinert wäre, der Gattung günstigere Daseinsbedingungen schaffen würde .« 79 Schlecht ist umgekehrt, was bei Verallgemeinerung der Menschheit ungünstigere Daseinsbedingungen verschafft. Gut ist sonach, was die Evolution der Menschheit fördert, schlecht, was ihr entgegensteht.
Was aber soll ein Individuum dazu bewegen, im Interesse der
76 S.415.
77 S. 416.
78 S. 417 f.
79 S. 418.