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Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit
Menschheit zu handeln, wenn es selbst Dinge zu tun wünscht, die nicht der Menschheit dienen? - Der Antrieb, im Sinne der Solidaritätsmoral zu handeln, ist das wohlverstandene Eigeninteresse: »Da du ein Theil der Menschheit bist, so ist ihr Gedeihen dein Gedeihen und ihr Leiden dein Leiden. Thust du also das, zvas ihr gut ist, soerweistdu direin Gutes; thust du aber das, was ihr schlecht ist, so fügst du dir ein Schlechtes zu .« 80
Nun ist diese Argumentation so neu nicht. Die Solidaritätsmoral Nordaus folgt in ihrem Bruch mit der traditionellen ethischen Unterscheidung zwischen Gut und Böse und in ihrer Orientierung am eigenen und allgemeinen Nutzen dem Utilitarismus John Stuart Mills. In einem wichtigen Punkt ist sie von Mills Utilitarianism (1861) unterschieden: Da Mill deutlich das Problem sah, daß bei ethischen Überlegungen ja gerade strittig ist, was dem »Wol der Menschheit« tatsächlich diene und darüber vollkommen verschiedene und unvereinbare Ansichten bestehen können, hatte er das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen zum Erfolgskriterium einer guten, d.h. nützlichen Handlung gemacht.
Nordau ersetzt dieses Kriterium durch dasjenige der Schaffung von günstigen Daseinsbedingungen für die Gattung, reichert also Mills Utilitarismus darwinistisch noch etwas an. Den Begründungsschwierigkeiten der Behauptung, das Handeln im Sinne des Gemeinwohls auch das eigene Wohl fördere, kann seine Solidaritätsmoral dennoch nicht entgehen. 81 Daß, um eines seiner Beispiele zu nennen, dem alten Pariser Hagestolz mit Rente, der zu seiner Maitresse gehen und alles mit ihr tun will, nur kein Kind zeugen, partout rational nicht beizubringen ist, warum er sein Eigenwohl dem Gemeinwohl unterordnen soll und warum sein angeblich gemeinwohlwidriges Verhalten ihm gar persönlich schaden solle, liegt auf der Hand. Und selbst, wenn er seine Heiratsund Zeugungsverweigerung als gemeinwohlwidriges Verhalten an-
80 S. 418f.
81 Vgl. John Stuart Mill, Der Utilitarismus, hg. u. übers, v. Dieter Bimbacher, Stuttgart 1985, bes. 4. Kapitel (»Welcherart Beweis sich für das Nützlichkeitsprinzip führen läßt«), S. 60ff.; vgl. auch das abgewogene Nachwort Bimbachers zu dieser deutschen Ausgabe.