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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit

Menschheit zu handeln, wenn es selbst Dinge zu tun wünscht, die nicht der Menschheit dienen? - Der Antrieb, im Sinne der Solidari­tätsmoral zu handeln, ist das wohlverstandene Eigeninteresse: »Da du ein Theil der Menschheit bist, so ist ihr Gedeihen dein Gedei­hen und ihr Leiden dein Leiden. Thust du also das, zvas ihr gut ist, soerweistdu direin Gutes; thust du aber das, was ihr schlecht ist, so fügst du dir ein Schlechtes zu .« 80

Nun ist diese Argumentation so neu nicht. Die Solidaritätsmoral Nordaus folgt in ihrem Bruch mit der traditionellen ethischen Un­terscheidung zwischen Gut und Böse und in ihrer Orientierung am eigenen und allgemeinen Nutzen dem Utilitarismus John Stuart Mills. In einem wichtigen Punkt ist sie von Mills Utilitarianism (1861) unterschieden: Da Mill deutlich das Problem sah, daß bei ethischen Überlegungen ja gerade strittig ist, was dem »Wol der Menschheit« tatsächlich diene und darüber vollkommen verschie­dene und unvereinbare Ansichten bestehen können, hatte er das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen zum Erfolgskriterium einer guten, d.h. nützlichen Handlung ge­macht.

Nordau ersetzt dieses Kriterium durch dasjenige der Schaffung von günstigen Daseinsbedingungen für die Gattung, reichert also Mills Utilitarismus darwinistisch noch etwas an. Den Begrün­dungsschwierigkeiten der Behauptung, das Handeln im Sinne des Gemeinwohls auch das eigene Wohl fördere, kann seine Solidari­tätsmoral dennoch nicht entgehen. 81 Daß, um eines seiner Bei­spiele zu nennen, dem alten Pariser Hagestolz mit Rente, der zu seiner Maitresse gehen und alles mit ihr tun will, nur kein Kind zeugen, partout rational nicht beizubringen ist, warum er sein Eigenwohl dem Gemeinwohl unterordnen soll und warum sein angeblich gemeinwohlwidriges Verhalten ihm gar persönlich scha­den solle, liegt auf der Hand. Und selbst, wenn er seine Heirats­und Zeugungsverweigerung als gemeinwohlwidriges Verhalten an-

80 S. 418f.

81 Vgl. John Stuart Mill, Der Utilitarismus, hg. u. übers, v. Dieter Bimbacher, Stuttgart 1985, bes. 4. Kapitel (»Welcherart Beweis sich für das Nützlichkeits­prinzip führen läßt«), S. 60ff.; vgl. auch das abgewogene Nachwort Bimbachers zu dieser deutschen Ausgabe.