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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Pariser Briefe. Kulturbilder

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romanhafte Autobiographie eines Pariser Communarden von 1871. Es veranlaßt Nordau zu Überlegungen über die Situation des aka­demischen Proletariats und die Gefahren einer Revolution, wenn Intellektuelle sozial deklassiert werden. Nordaus Standpunkt ist hier, wie schon in den Conventionellen Lügen, wiederum der einer evolutionistischen Reform, die nötig ist, um die naturwidrige Revo­lution zu vermeiden. Überdies, und das nimmt spätere kulturkriti­sche wie auch zionistische Positionen vorweg, tritt er für die Mög­lichkeit körperlicher Arbeit der Intellektuellen ein, welche durch körperliche Ertüchtigung und, so die Juden, durch »Muskeljuden­tum« vor Erschlaffung und Entartung bewahrt werden könnten: »So lange in Europa das Vorurtheil nicht besiegt ist, welches dem Besitzer durch Universitätsdiplome bescheinigter höherer Bil­dung jede körperliche Arbeit, jeden sogenannten Erwerb durch­aus verwehrt, so lange es überhaupt Erwerbe gibt, welche für >niedrig< und eines Gebildeten unwürdig gelten, so lange hat es große Gefahren, die Zahl derjenigen zu vermehren, welche hö­here Bildung erwerben und dann von dieser ihren Lebensunter­halt fordern. Der Petroleur, der Nihilist, Jacques Vingtras geht aus der Gruppe der wütenden Hungerleider hervor, die ihrer Bil­dung nach zur obersten Klasse ihres Volkes gehören (...).« 6 7

Auch die Besprechung von Emile Zolas Pot-Bouille aus dem Jahre 1882 nimmt die zehn Jahre später erhobenen Vorwürfe von Entartung vorweg. Schauplatz dieses Romans ist ein Pariser Miets­haus, dessen Bewohner in ihren Verhältnissen untereinander suk­zessiv geschildert werden. Der Roman in seinem programmati­schen Realismus spart dabei kein Tabu, keine Gemeinheit, keinen Neid, keine sexuelle, intellektuelle oder kriminelle Verirrung der Hausbewohner aus. Konsequent gibt es keinen >Helden< mehr; keine der Personen, keiner der Hausbewohner, sondern das Haus selbst ist die >Hauptfigur< dieses Romans. Nordau sieht in alledem nur Zolas schlechte Meinung vom Bürgertum repräsentiert; er fin­det, daß die Roheit, Zotenhaftigkeit und Flegelei dieses Romans »Alles hinter sich läßt, was bisher in Schrift oder Druck zu Papier gebracht wurde.« 1 »Ich glaube ernstlich, daß Zola gegenwärtig

6 Nordau, Pariser Briefe, S. 323.

7 Nordau, Pariser Briefe, S. 335.