Paradoxe und Privates
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schriftstellerisch - und vielleicht sittlich - unzurechnungsfähig ist«. 8 Nordau schließt vom Roman-Inhalt auf den Geisteszustand seines Autors, zweifelt mit der klassischen Strategie der Psychopathologie des 19. Jahrhunderts dessen Zurechnungsfähigkeit an und erklärt ihn wegen der »moral insanity« seines Werkes selbst für irre. Und diese »Senkgruben-Ausräumung« würden in einer Auflage von über 100000 Exemplaren sogar Frauen (!) zu lesen bekommen. 9 An dieser Meinung Nordaus über Zola und sein Werk hat sich bis zu Entartung nichts geändert; erst als Nordau im Kontext der Dreyfus-Affäre schon vor der Publikation von J’accuse (1898) Zola persönlich kennenlernt, wird zumindest dessen Person von der Polemik ausgenommen. Aber das geschieht fast fünfzehn Jahre nach dem Abdruck dieser Kritik.
Paradoxe
Zwei Jahre nach dem Erfolg von Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit veröffentlicht das Verlagshaus Elischer 1885 in Leipzig Nordaus nächstes Buch: Paradoxe. Nordau hat es im Laufe des Jahres 1884 verfaßt und hielt es auch noch nach dem Erscheinen von Entartung für das beste Buch, das er je geschrieben hatte, obwohl es nicht den Erfolg der Conventionellen Lügen erzielte. 10 In der Tat ist Paradoxe neben der späten Biologie der Ethik (1916) das am stärksten theoretische Buch Nordaus und liest sich wie eine breite Ausführung seiner eigenen naturwissenschaftlichen Weltanschauung, die in den Conventionellen Lügen als Ausgangspunkt gedient hatte, dort jedoch stark von der Gesellschaftskritik überlagert und kaum weiter fundiert worden war.
In Paradoxe nun nimmt Nordau Probleme der zeitgenössischen Diskussion in Wissenschaft, Politik und Künsten auf, um
8 Nordau, Pariser Briefe, S. 336.
9 Ibd.
10 Vgl. Nordaus Interview in: Idler IX (February 1896), S. 19. Vom Buch waren 1896 über 23000 Exemplare verkauft.