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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Paradoxe

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an ihnen seine eigene Weltanschauung zu demonstrieren. Das tut er nicht in systematischer Form, sondern anhand von locker an­einandergereihten Essays, die irgendeine Frage des Zeitgeistes aufgreifen. Der Titel Paradoxe erklärt sich dabei - Nordau selber erläutert ihn nicht eigens - einerseits aus der Widersprüchlichkeit der Fragestellungen, andererseits aus den zum Teil paradoxen Antworten, die Nordau dem Zeitgeist und seinen Moden entge­genhält.

Eine der weltanschaulichen Alternativen der Epoche leitet das Buch ein: Optimismus oder Pessimismus?'Wer die Conventionel­len Lügen gelesen hatte, konnte über Nordaus Antwort nicht im Zweifel sein. Nordau ist evolutionistischer Fortschrittsoptimist. Das ist auch in Paradoxe seine Antwort, nachdem er den Pessimis­mus kritisiert hat. Den Pessimismus angesichts der Übel in der Welt, eine Art von philosophischem Pessimismus als Reaktion auf die unlösbare Theodizee-Frage, wie er ihn von Schopenhauer und Eduard von Hartmann kennt, hält Nordau für eine Frucht mensch­licher »Selbstverliebtheit und Überhebung «. 11

Denn »die Vorgänge im Kosmos mit der Elle menschlicher Ver­nunft zu messen «, 12 ist wegen der Begrenztheit menschlicher Er­kenntnis überheblich. Und über die Gesetze des Kosmos wisse die moderne Wissenschaft noch zu wenig, um sich über die Gründe für die Existenz von Übeln Klarheit zu verschaffen und sie zu beseiti­gen. Sie hat, gemäß der Forderung von Auguste Comtes Positivis­mus, die Erforschung der Finalität zugunsten der von Kausalität ganz aufgegeben und muß dem Menschen die Illusion rauben, End­zweck der Welt zu sein. »Man glaubt und lehrt nicht mehr, daß unsere Erde der Mittelpunkt des Weltsystems und der Mensch der Endzweck der Natur sei (...).« 13 Von daher fehle einem philo­sophischen Pessimismus in der Moderne jede Argumentations­basis.

Kein Argument hat auch der volkstümliche Pessimismus, die »Mieseisucht«. Er ist deshalb auch nicht argumentativ widerlegbar, sondern kann nur als Phänomen analysiert werden. Nordau beur-

11 Nordau, Paradoxe, Leipzig: Elischer 2 1885, S. lf.

12 S.5.

13 S.9.