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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Paradoxe und Privates

teilt diesen Pessimismus wiederum als Arzt und Kultur-Pathologe: Pessimismus sei die Begleiterscheinung einer noch nicht ausgebro­chenen Gehirnerkrankung, vulgo Psychose. Diese zeigt sich noch bei den Größten. »Alle großen Dichter des Weltschmerzes waren zerrüttete Organismen.« 14 Diese von Nordau radikalisierte These findet sich ursprünglich bei dem von Nordau zitierten Cesare Lom- broso 15 in dessen epochemachender Studie Genie und Irrsinn (Genio e folia, 1864). Lombroso hatte die Verwandtschaft von künstlerischem Genie und von Wahnsinn bei einzelnen Künstlern behauptet und an Fallbeispielen demonstriert, die den romanti­schen Geniekult einigermaßen demolieren sollten. Nordau hat schon hier, wie dann später in größerem Rahmen in den beiden Lombroso gewidmeten Bänden von Entartung, Lombrosos Einzel­fallstudien volksnah verallgemeinert und zur generellen pathologi­schen Erklärung des Pessimismus mißbraucht, nämlich zum Zwecke seiner ebenso populären wie polemischen Pathologisie- rung.

Gesund dagegen ist nach Nordau der Optimismus. Er ist ein »Ur-Instinkt«, der alleip Denken und Tun des Menschen von Na­tur aus zugrunde liegt. Er ist der gesunde äußere Ausdruck der Lebenskraft des Menschen, Quelle und »Synonym« von Selbstbe­hauptung, Bewegung, Fortschritt, Hoffnung, Leben. »Die Wahr­heit ist, daß der Optimismus, ein grenzenloser, unentwurzelbarer Optimismus die Grundanschauung des Menschen bildet, das in­stinktive Gefühl, das ihm in allen Lagen natürlich ist. Was wir Optimismus nennen, ist einfach die Form, in der uns die eigene Lebenskraft, der Lebensvorgang in unserem Organismus zum Be­wußtsein kommt. Optimismus ist also nur eine andere Bezeich­nung für Vitalität, eine Bekräftigung der Thatsache des Seins.« 16

Mehrheit und Minderheit lautet der Titel des folgenden Essays

14 S. 13.

15 Vgl. S.64. Die deutsche Übersetzung von Lombrosos Genie und Irrsinn erscheint erst 1887, Nordau hat ihn also wohl in Italienisch gelesen. Zum Ver­hältnis von Lombroso und Nordau vgl. Mark Anderson, Typologie et caractere. Max Nordau, Cesare Lombroso et lanthropologie criminelle, in: Max Nordau 1849-1923, hg. v. Delphine Bechtel, Dominique Bourel und Jacques Le Rider, Paris 1996, S. 121-131.