168
Paradoxe und Privates
teilt diesen Pessimismus wiederum als Arzt und Kultur-Pathologe: Pessimismus sei die Begleiterscheinung einer noch nicht ausgebrochenen Gehirnerkrankung, vulgo Psychose. Diese zeigt sich noch bei den Größten. »Alle großen Dichter des Weltschmerzes waren zerrüttete Organismen.« 14 Diese von Nordau radikalisierte These findet sich ursprünglich bei dem von Nordau zitierten Cesare Lom- broso 15 in dessen epochemachender Studie Genie und Irrsinn (Genio e folia, 1864). Lombroso hatte die Verwandtschaft von künstlerischem Genie und von Wahnsinn bei einzelnen Künstlern behauptet und an Fallbeispielen demonstriert, die den romantischen Geniekult einigermaßen demolieren sollten. Nordau hat schon hier, wie dann später in größerem Rahmen in den beiden Lombroso gewidmeten Bänden von Entartung, Lombrosos Einzelfallstudien volksnah verallgemeinert und zur generellen pathologischen Erklärung des Pessimismus mißbraucht, nämlich zum Zwecke seiner ebenso populären wie polemischen Pathologisie- rung.
Gesund dagegen ist nach Nordau der Optimismus. Er ist ein »Ur-Instinkt«, der alleip Denken und Tun des Menschen von Natur aus zugrunde liegt. Er ist der gesunde äußere Ausdruck der Lebenskraft des Menschen, Quelle und »Synonym« von Selbstbehauptung, Bewegung, Fortschritt, Hoffnung, Leben. »Die Wahrheit ist, daß der Optimismus, ein grenzenloser, unentwurzelbarer Optimismus die Grundanschauung des Menschen bildet, das instinktive Gefühl, das ihm in allen Lagen natürlich ist. Was wir Optimismus nennen, ist einfach die Form, in der uns die eigene Lebenskraft, der Lebensvorgang in unserem Organismus zum Bewußtsein kommt. Optimismus ist also nur eine andere Bezeichnung für Vitalität, eine Bekräftigung der Thatsache des Seins.« 16
Mehrheit und Minderheit lautet der Titel des folgenden Essays
14 S. 13.
15 Vgl. S.64. Die deutsche Übersetzung von Lombrosos Genie und Irrsinn erscheint erst 1887, Nordau hat ihn also wohl in Italienisch gelesen. Zum Verhältnis von Lombroso und Nordau vgl. Mark Anderson, Typologie et caractere. Max Nordau, Cesare Lombroso et l’anthropologie criminelle, in: Max Nordau 1849-1923, hg. v. Delphine Bechtel, Dominique Bourel und Jacques Le Rider, Paris 1996, S. 121-131.