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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Paradoxe

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im Buch. Er enthält Nordaus paradox-provozierendes Loblied des Philisters. Der Philister steht für das Allgemeine, Herkömm­liche und Ererbte, sein Gegenstück seit der Romantik, das Genie, steht hingegen für die Ausnahme, den Einfall und das Erneu­ernde. Lob verdient der Philister gerade dafür, daß er in seiner Resistenz gegen jede Veränderung die Ausnahme-Individuen zur Selbstbehauptung zwingt und damit, sogar gegen seinen eigenen Willen, zum Anfang substantieller Erneuerung wird, zu der die Mehrheit aus sich selbst heraus gar nicht fähig wäre. Denn ir­gendwann wird das durchsetzungsfähige Neue von der Mehrheit banalisiert und verallgemeinert, aber auf diese Weise angeeignet. Die Erneuerung wird dadurch zum Gemeingut gemacht, welches die fortschrittliche Entwicklung der Gattung in allen Lebensbe­reichen sichert.

Nicht überraschend, ist der Darwinismus auch hier der Vater des Gedankens. Denn der Philister steht für die Vererbung, das Genie für die Mutation und Erneuerung. Allerdings kritisiert Nordau Dar­win und seine Jünger für deren überstarke Betonung der Unverän­derlichkeit von Vererbung und damit der Arten, die die natürliche Anpassung unerklärlich mache. Nordau modifiziert hier, ohne ihn zu nennen, seinen Darwinismus im Sinne von Lamarcks Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften. Dabei bleiben die darwi- nistischen Grundsätze von Kampf ums Dasein und Zuchtwahl un­angetastet bestehen, aber das Prinzip der Mutation wird aufge­weicht zum »Lebensgesetz« der Anpassung, das den Erwerb von Neuem, Originellem und Individuellem ermöglicht. Erneuerung und Anpassung der Gattung sind sonach nicht mehr eine reine Folge des Zufalls wie bei Darwins Mutation, welche die Vererbung des Immergleichen zufällig unterbricht, sondern können, gerade im Fall des Menschen, aktiv betrieben, gefördert und weitervererbt werden . 17

Übersetzen wir diese vermeintlich theoretischen Äußerungen Nordaus in seine eigene, konkrete Lebenssituation zurück, dann ist seine Option für den Lamarckismus eine quasi-wissenschaftliche Fundierung und Legitimation der jüdischen Aufsteiger und ihrer gesellschaftlichen Assimilation: Nicht rein zufällige Selektion

17 Vgl. S. 44-47.