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Paradoxe und Privates
(Darwin), sondern die eigene vererbbare Anpassung (Lamarck), Anstrengung und Arbeit ermöglichen das Verlassen des jüdischen Ursprungsmilieus und verheißen die Durchsetzung in der bürgerlichen Gesellschaft. Es gibt keine, wie die Antisemiten meinten, unveränderlichen erblichen Eigenschaften >des Juden< oder der jüdischen >Rasse<, sondern jeder Jude kann aus eigener Kraft im Kampf ums Dasein in der bürgerlichen Gesellschaft sich erfolgreich anpassen, sich durchsetzen und diese erfolgreichen Eigenschaften an seine Nachkommen weitervererben. Daß eine der Konsequenzen dieses jüdischen Lamarckismus das Verschwinden alles spezifisch Jüdischen im Evolutionsprozeß ist, nimmt Nordau nicht nur hin, es ist ihm in diesen Jahren sogar willkommen und unterstützt seine eigenen sozialen und nationalen Aspirationen. Aber das sagt oder schreibt Nordau nicht ausdrücklich.
Ausdrücklich münzt er den lamarckianisch gewendeten Darwinismus seiner Theorie auf das Verhältnis von Mann und »Weib«: mit ebenso vorhersehbaren Konsequenzen. »Im Weibchen herrscht also das Vererbungs-, im Männchen das Sonderbildungsgesetz vor.« 18 Kurz: Pas Weib steht für das Reaktionäre und Fortschrittsfeindliche 19 , der Mann für Individualität, Originalität und Fortschritt. »Weiblichkeit, das heißt die unselbständige Wiederholung der Gattungsphysiognomie (...); das Weib ist keine Persönlichkeit, sondern eine Gattung« 20 , ein »geistiger Automat«. 21 Ist eine Frau unbestreitbar originell, gilt: »Die Abweichung vom Typus ist bei der Frau in hundert Fällen achtzigmal krankhaft.« 22 Die restlichen 20 % sind Mannweiber. Woraus folgt, ohne daß Nordau dies sagt, daß das Weib der geborene Philister ist und nur einige Männer das Zeug zum Genie haben. Aber das ist nur eine weitere Variation des alten Nordau-Themas von der Überlegenheit des Mannes aufgrund der Biologie. Und der Ansicht des Frauenarztes, der Frauen als ihm unterlegene, auf ihn angewiesene Patientinnen wahrnimmt.
Nordau reflektiert gar nicht eigens, daß er sich mit seinem so gar
18 S.50.
19 Vgl. S. 56.
20 S. 52f.
21 S. 56.
22 S.53.