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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Paradoxe und Privates

(Darwin), sondern die eigene vererbbare Anpassung (Lamarck), Anstrengung und Arbeit ermöglichen das Verlassen des jüdischen Ursprungsmilieus und verheißen die Durchsetzung in der bürger­lichen Gesellschaft. Es gibt keine, wie die Antisemiten meinten, un­veränderlichen erblichen Eigenschaften >des Juden< oder der jüdi­schen >Rasse<, sondern jeder Jude kann aus eigener Kraft im Kampf ums Dasein in der bürgerlichen Gesellschaft sich erfolgreich anpas­sen, sich durchsetzen und diese erfolgreichen Eigenschaften an seine Nachkommen weitervererben. Daß eine der Konsequenzen dieses jüdischen Lamarckismus das Verschwinden alles spezifisch Jüdischen im Evolutionsprozeß ist, nimmt Nordau nicht nur hin, es ist ihm in diesen Jahren sogar willkommen und unterstützt seine eigenen sozialen und nationalen Aspirationen. Aber das sagt oder schreibt Nordau nicht ausdrücklich.

Ausdrücklich münzt er den lamarckianisch gewendeten Dar­winismus seiner Theorie auf das Verhältnis von Mann und »Weib«: mit ebenso vorhersehbaren Konsequenzen. »Im Weibchen herrscht also das Vererbungs-, im Männchen das Sonderbildungs­gesetz vor.« 18 Kurz: Pas Weib steht für das Reaktionäre und Fort­schrittsfeindliche 19 , der Mann für Individualität, Originalität und Fortschritt. »Weiblichkeit, das heißt die unselbständige Wiederho­lung der Gattungsphysiognomie (...); das Weib ist keine Persön­lichkeit, sondern eine Gattung« 20 , ein »geistiger Automat«. 21 Ist eine Frau unbestreitbar originell, gilt: »Die Abweichung vom Typus ist bei der Frau in hundert Fällen achtzigmal krankhaft.« 22 Die rest­lichen 20 % sind Mannweiber. Woraus folgt, ohne daß Nordau dies sagt, daß das Weib der geborene Philister ist und nur einige Männer das Zeug zum Genie haben. Aber das ist nur eine weitere Variation des alten Nordau-Themas von der Überlegenheit des Mannes auf­grund der Biologie. Und der Ansicht des Frauenarztes, der Frauen als ihm unterlegene, auf ihn angewiesene Patientinnen wahrnimmt.

Nordau reflektiert gar nicht eigens, daß er sich mit seinem so gar

18 S.50.

19 Vgl. S. 56.

20 S. 52f.

21 S. 56.

22 S.53.