Druckschrift 
Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
Seite
171
Einzelbild herunterladen

Paradoxe

171

nicht paradoxen Loblied auf die Philister auf die Seite der konser­vativen Selektion und des Normalen schlägt. Die Neuerung durch genialische >Mutation< wird pathologisiert, und ein grundsätzlich kulturkonservativer Zug Nordaus tritt zutage, der in Entartung sei­nen vollendeten Ausdruck finden wird: Künstlerische Neuerung steht unter Generalverdacht, der Evolutionist Nordau steht auf der Seite der konservativen Normalen und Philister. Das Loblied auf die Philister folgt ja schließlich aus seiner eigenen, darwinistisch- lamarckianischen Kulturtheorie.

Das Kapitel Rückblick dient dazu, den wissenschaftlichen, ma­teriellen und moralischen Fortschritt der Gegenwart zu bekräfti­gen. »Es ist nicht wahr, daß es Epochen des Rückschritts oder selbst nur des Stillstandes in der Geschichte der Menschheit gibt.« 23 Hier fehlt jede Begründung, aber immerhin nennt Nordau eine interessante Reihe von Autoren der »Bücher, die mir theuer sind« und die ihm für den wissenschaftlichen Fortschritt der Ge­genwart zeugen: Fechner, Lange, Wundt, Zeller, Lazarus, Spencer, Bain, Mill, Ribot. 24 Alle diese Autoren des 19. Jahrhunderts sind ein wenig ältere Zeitgenossen Nordaus und Garanten der naturwissen­schaftlichen Weltanschauung.

Im Psycho-Physiologie des Genies und Talents überschriebe- nen Kapitel, in dem Nordau zunächst zwischen Talent und Genie unterscheidet und dann eine Rangfolge von verschiedenen Sorten von Genies festlegt, spricht Nordau wie stets im streng wissen­schaftlichen Ton eines Oberpriesters naturwissenschaftlicher Ver­nunft. Ein Talent zeichne sich dadurch aus, daß es übliche Tätigkei­ten besser ausführt als seine Zeitgenossen, ein Genie dadurch, daß es etwas ganz anderes und Neues kann als die Zeitgenossen. 25 Das Genie beruht auf höherer organischer Entwicklung, Talent auf Übung. 26 Bei den Genies unterscheidet Nordau, immer streng psycho-physiologisch und in bemühter Abgrenzung zu einem rein ästhetischen Genie-Begriff, die »kogitationellen« von den »emo­tionellen« Genies, wobei die Emotion der Vernunft den Vorrang

23 S.88.

24 S. 85.

25 S. 124 f.

26 S. 131; 157.