Die Krankheit des Jahrhunderts
179
keine Sprünge macht, wird hier zur Absage an alle Utopie und zum naturwissenschaftlich-weltanschaulichen Fundament einer gründlich kulturkonservativen Haltung. Da nämlich Rückschritte unmöglich oder krankhaft sind und die Kultur so wenig wie die sie beherrschende Natur Sprünge macht, bleibt nur der graduelle unendliche Fortschritt aller Kultur zum Nützlicheren, Schöneren und Besseren. Avantgarde-Kunst und andere Revolutionen bleiben in diesem Weltbild außen vor. Sie gelten als unnatürlich und damit als Krankheitsphänomen, das die Evolution anpassen oder erledigen wird.
Die Krankheit des Jahrhunderts
Der Titel Die Krankheit des Jahrhunderts stammt von Nordau. Und dieser Titel ist, anders als wir vermuten könnten, nicht der Titel einer theoretischen Abhandlung über das Unbehagen in der Kultur des Fin de siede, sondern der Titel eines 1887 im Verlagshaus Elischer in Leipzig erschienenen Romans. Dieser brachte Nordau zunächst statt Geld viel Ärger ein. Denn der Verleger hatte nach vermutlich zähen, erfolglosen Verhandlungen mit dem in finanziellen Dingen wenig kompromißbereiten Nordau die Drucklegung veranlaßt, ohne von Nordau autorisiert zu sein. Das führte zum Bruch Nordaus mit dem Verlag und zu einem Urheberrechtsprozeß, den der in der Association Litteraire Internationale organisierte und in diesen Fragen kundige Nordau nach zwei Jahren gewann.
Das Buch war ein Erfolg und erreichte bis 1902 insgesamt sechs Auflagen. Verwunderlich ist dies nicht, denn er ist der literarisch vielleicht gelungenste Roman Nordaus. Vor allem aber handelt er, entgegen dem thesenartigen Titel, irr der Gegenwart und von den brennenden politischen und weltanschaulichen Orientierungsproblemen im Deutschland der Sozialistengesetze.
Die Hauptfigur des Romans mit dem gut germanisch-deutschen Namen Wilhelm Eynhardt ist die Verkörperung der Krankheit des Jahrhunderts. Diese Krankheit heißt: Willensschwäche. Eynhardt