180
Paradoxe und Privates
ist ein intellektuell und künstlerisch hochbegabter, gutaussehender junger Mann aus reichem Elternhaus, dem nach Promotion und Antritt seines Erbes die ganze Welt offensteht. Aber er ist willens- und antriebsschwach und deswegen unfähig, Entscheidungen zu treffen. Er kann sich nicht entschließen, zu heiraten und einen Hausstand zu gründen. Obwohl er geliebt wird und eine gute Partie machen würde, läßt er seine Verlobung platzen. Auch eine Berufswahl trifft der reiche Erbe nicht. Er lebt in Berlin vor sich hin, hat Sympathien für die Sozialdemokratie, aber vermag auch hier nicht, sich zu engagieren. In einem Seebad erliegt er den Reizen einer Spanierin - halb zog sie ihn, halb sank er hin. Er ergibt sich der Situation, aber nur, um die Frau durch eine heimliche Abreise und ohne ersichtliche Gründe eines Tages wieder zu verlassen, diejenige Handlung, welche die geringste Willensanstrengung kostete. Selbst den Entschluß, sich umzubringen, kann Eynhardt nicht in der Weise fällen wie ein im Roman auftretender Philosoph, den Nordau nach dem Vorbild Philipp Mainländers (Pseudonym für Philipp Batz, 1841-1876) gestaltet hat: Nachdem dieser sein Hauptwerk Die Philosophie der Erlösung zu Ende geschrieben hatte, welches die Erlösung in der vollkommenen Befreiung vom Willen zum Leben sieht, tötet der Philosoph sich am Tage nach dem Erscheinen seines Buches und zieht so handelnd die Konsequenz aus seiner post-schopenhauerianischen Philosophie. Aber zu einer Handlung wie dem Suizid reicht die Entschlußkraft Eynhardts nicht aus. Er kommt ebenso willenlos, wie er gelebt hat, zu Tode: Er ertrinkt bei dem Versuch, den Sohn eines Schulfreundes aus dem Wasser zu retten.
Aufs Ganze gesehen ist dieser Roman Nordaus weit weniger papieren, als Titel und These könnten vermuten lassen. Seine Stärken hat er in seitenlangen Schilderungen der Milieus von Offizieren, Bürgerlichen und Arbeitern sowie den Beschreibungen der Industrialisierung und ihrer Auswirkungen im Berlin der Gründerzeit, die in ihrer Plastizität bisweilen an die Industriegemälde des jungen Liebermann erinnern. Ausgesprochen scharf ist die Kritik des Romans an Junkertum, Bigotterie, den Offiziersallüren und dem politischen Strebertum im Kaiserreich, mutig schließlich die offene Absage an Ideologie und Praxis der Sozialistengesetze, welche zur Zeit des Erscheinens dieses Romans im Bismarck-Deutschland schließ-