Die Krankheit des Jahrhunderts
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lieh noch galten. Hier nimmt Nordau das erste Mal seit den Conventionellen Lügen wieder politisch Stellung. Das ist zwar in eine Romanhandlung gekleidet, aber wegen seiner Lebensnähe und Konkretheit der Schilderungen und Situationen in Berlin weit zündender als die generalisierende, abstrakte Kritik an der »aristokratisch-monarchischen Lüge«.
Bei alledem bleibt Nordau ein liberaler Kritiker des Wilhelminismus. Die positive Identifikationsfigur des Romans ist Dr. Schrötter, ein weitgereister Armenarzt und durchaus ein idealisiertes Selbstporträt Nordaus. Dr. Schrötter ist intellektuell, moralisch und weltanschaulich auf der Höhe der Zeit. Er hat wie Nordau Sympathie für die Anliegen der Armen und Unterdrückten, auch für das Anliegen der Sozialisten in der sozialen Frage, aber nicht für deren Partei, Ideologie und Revolutionsvorstellungen. Dieser Dr. Schrötter liefert nicht nur die Diagnose der Krankheit des Jahrhunderts, den »Schwindel« von Schopenhauers Pessimismus und Verzicht auf Willensfreiheit und Willen 52 , er verkörpert auch das Heilmittel: tatkräftiges, aufgeklärtes und entschlossenes Handeln zum Besten der Allgemeinheit, vor allem der Armen. Er ist die verkörperte Solidaritätsmoral Nordaus, weder ein Heiliger noch ein Asket noch ein Politiker, sondern ein aufgeklärter, aufmerksamer, ideologieferner Zeitgenosse. Hiergegen ist die Figur Eynhardts das literarische Bildnis eines deutschen Entarteten 53 : Er liegt auf der Linie eines (gemäß einem fragwürdigen Verständnis) von Schopenhauer geforderten Willens- und Handlungsverzichts, der ökonomisch durch eine ausreichende Erbschaft ermöglicht wird, also des bürgerlichen Rentiers, der aus der Position machtgeschützter Innerlichkeit heraus Mitleid mit aller Kreatur empfindet, aber, nie eingreifend, stets Beobachter bleibt.
Nordau hatte unter dem zeitgenössisch üblichen Stichwort vom »Pessimismus« den Schopenhauerianismus in Paradoxe noch direkt attackiert. Entartete Exemplare des Schopenhauerianismus
52 Max Nordau, Die Krankheit des Jahrhunderts, 6. Aufl. Leipzig 1902, S. 106.
53 Hans-Peter Söder hat vor allem an diesem Roman Nordaus Theorie der Entartung literaturwissenschaftlich herausgearbeitet. Vgl. Hans-Peter Söder, Disease and Health as Contexts of Modernity: Max Nordau’s Theory of Degeneration, Diss. phil. Comell 1991.