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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Die Krankheit des Jahrhunderts

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lieh noch galten. Hier nimmt Nordau das erste Mal seit den Con­ventionellen Lügen wieder politisch Stellung. Das ist zwar in eine Romanhandlung gekleidet, aber wegen seiner Lebensnähe und Konkretheit der Schilderungen und Situationen in Berlin weit zün­dender als die generalisierende, abstrakte Kritik an der »aristokra­tisch-monarchischen Lüge«.

Bei alledem bleibt Nordau ein liberaler Kritiker des Wilhelminis­mus. Die positive Identifikationsfigur des Romans ist Dr. Schrötter, ein weitgereister Armenarzt und durchaus ein idealisiertes Selbst­porträt Nordaus. Dr. Schrötter ist intellektuell, moralisch und welt­anschaulich auf der Höhe der Zeit. Er hat wie Nordau Sympathie für die Anliegen der Armen und Unterdrückten, auch für das Anlie­gen der Sozialisten in der sozialen Frage, aber nicht für deren Par­tei, Ideologie und Revolutionsvorstellungen. Dieser Dr. Schrötter liefert nicht nur die Diagnose der Krankheit des Jahrhunderts, den »Schwindel« von Schopenhauers Pessimismus und Verzicht auf Willensfreiheit und Willen 52 , er verkörpert auch das Heilmittel: tat­kräftiges, aufgeklärtes und entschlossenes Handeln zum Besten der Allgemeinheit, vor allem der Armen. Er ist die verkörperte Solidari­tätsmoral Nordaus, weder ein Heiliger noch ein Asket noch ein Politiker, sondern ein aufgeklärter, aufmerksamer, ideologieferner Zeitgenosse. Hiergegen ist die Figur Eynhardts das literarische Bildnis eines deutschen Entarteten 53 : Er liegt auf der Linie eines (gemäß einem fragwürdigen Verständnis) von Schopenhauer geforderten Willens- und Handlungsverzichts, der ökonomisch durch eine ausreichende Erbschaft ermöglicht wird, also des bür­gerlichen Rentiers, der aus der Position machtgeschützter Inner­lichkeit heraus Mitleid mit aller Kreatur empfindet, aber, nie ein­greifend, stets Beobachter bleibt.

Nordau hatte unter dem zeitgenössisch üblichen Stichwort vom »Pessimismus« den Schopenhauerianismus in Paradoxe noch di­rekt attackiert. Entartete Exemplare des Schopenhauerianismus

52 Max Nordau, Die Krankheit des Jahrhunderts, 6. Aufl. Leipzig 1902, S. 106.

53 Hans-Peter Söder hat vor allem an diesem Roman Nordaus Theorie der Entartung literaturwissenschaftlich herausgearbeitet. Vgl. Hans-Peter Söder, Disease and Health as Contexts of Modernity: Max Nordaus Theory of Degene­ration, Diss. phil. Comell 1991.