Druckschrift 
Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
Seite
185
Einzelbild herunterladen

Der Brief-Freund

185

die fast totale, auch emotionale Hingabe an die Sache der zionisti­schen Bewegung als diese »Gesamtheit« nur wenige Jahre später ermöglicht. Vor der Hinwendung zum Zionismus ist bei Herzl und Nordau diese Denkfigur noch anders besetzt: Herzl träumt davon, der jüdischen Sache damit zu dienen, daß er als jüdische Führer­figur dem Papst die Juden zur Taufe zuführt, Nordau proklamiert die dem Fortschritt der Menschheit dienliche Aktivität in Wissen­schaft und Kunst. Aber erst die zionistische Bewegung erlaubt das totale Einbringen ihrer Individualität in eine Gesamtheit, in ein Kollektiv. Und Nordau bekennt in Meine Selbstbiographie später dann nur zu deutlich, wie sehr die Arbeit für den Zionismus seinem Leben Sinn verliehen hat.

Der Brief-Freund

Keinem anderen und keiner anderen hat Max Nordau in den zehn Jahren zwischen dem Erscheinen von Paradoxe im Jahre 1885 und seinem Engagement für den Zionismus ab 1895 so häufig geschrie­ben wie Eugen von Jagow. Nach dem Inhalt der Briefe Nordaus zu schließen, war Eugen von Jagow in diesen Jahren einer von Max Nordaus engsten Freunden in Paris. Selbst seiner Schwester hat Nordau zeitlebens nicht so viele Briefe geschrieben wie diesem Freund, nämlich über 320 Stück, obwohl sie doch in derselben Stadt lebten und arbeiteten und sich mindestens im Wochenab­stand sahen.

Daß es in all den Jahren von 1886 bis 1902, die dieser Briefwech­sel anhält, in der Briefanrede stets heißt »Mein hochverehrter Herr von Jagow«, später auch »Mein lieber Herr von Jagow«, ist kein Zeugnis wider die Intensität dieser Freundschaft. Das »Du« hätte in keiner Weise den Umgangsformeh dieser intellektuell feinsin­nigen und künstlerisch hochgestimmten, idealistischen Män­nerfreundschaft entsprochen. Gerade das Distanz schaffende »Sie« der beiden ermöglichte das vorsichtige, manchmal stark stili­sierte wechselseitige Sich-Offenbaren von Erfahrungen, Gefüh­len und Gesinnungen, das so intim wird, wie der Ehrenkodex