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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Der Brief-Freund

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Idealist und, so wenig sich das mit seiner Herkunft, Erziehung und Tätigkeit für die Kreuz-Zeitung zu vertragen scheint, liberal im eigentlichen Sinne des Wortes war. (...)

Mein Vater starb am 5.1.1905, als ich noch nicht zwei Jahre alt war. Meine Mutter, die auch für Zeitungen schrieb, konnte sich in Paris nicht halten, weil einer Frau damals eine Auslandskor- respendenz nicht übertragen wurde, die Kreuz-Zeitung damit auch nur ehemalige Offiziere betraute. Sie ging deshalb nach Deutschland zurück (...)« 55

»Mein im Jahr 1849 geborener Vater ging etwa 1883 als Schrift­steller und pol. Korrespondent der Kreuz-Zeitung nach Paris. Nordau war dort Botschaftsarzt und betätigte sich, wohl über­wiegend, ebenfalls schriftstellerisch und als Korrespondent der Wossischen Zeitung<. Wie und wann die Beiden sich näher ge­kommen sind, weiß ich im einzelnen nicht, jedenfalls entspann sich zwischen ihnen eine tiefe Freundschaft, die abgesehen vom Inhalt der Briefe, auch dadurch erkennbar wird, daß mein Vater der Pate von Nordaus am 10.1.1897 geborener Tochter Maxa wurde. Abgesehen von etwa IV 2 Jahren 1899/1900, die mein Va­ter in Berlin verbrachte, wo er meine Mutter heiratete, hat er bis zu seinem frühen Tode am 5.1.1905 immer in Paris gelebt, wo ich auch 1903geboren bin.« 56

In dieser Lebensbeschreibung von Jagows sind gleich mehrere Fakten enthalten, die dem Bild Nordaus neue, bisher gänzlich un­bekannte Facetten verleihen. Nordaus bester deutscher Freund je­ner Jahre war ein genau gleichaltriger, adliger, aber verarmter preu­ßischer Reserveleutnant, der in Paris seinen schriftstellerischen Ambitionen nachhing und wie Nordau Korrespondent einer Berli­ner Zeitung war. Aber nicht irgendeiner Zeitung. Eugen von Jagow war Korrespondent der Neuen Preußischen Zeitung, genannt Kreuz-Zeitung, die als das Blatt der protestantischen Hochkonser­vativen, der Junker und des aristokratischen Antisemitismus galt, der wohl konservativsten Tageszeitüng des Deutschen Reiches.

55 Brief von Clemens von Jagow an das Zionistische Zentralarchiv Jerusalem, Lübeck, 17.11.1960, ZZAL 33/972.

56 Brief Clemens von Jagows an den israelischen Botschaftsrat Michael Palgi (Bonn) vom 1.5.1960, ZZA L 33 / 972.