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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Paradoxe und Privates

auf dem ersten Zionistischen Kongreß in Basel 1897 der Wortführer der zionistischen Kritik an der jüdischen Assimilation war und im­mer wieder betonte, daß noch die extremste Assimilation an die westliche Kultur die Juden nicht vor Diskriminierung schütze, so können wir in dieser Schilderung des Vorfalls auf Borkum das per­sönliche Zeugnis Nordaus sehen, welches, privatissime, die Kon­stellation der späteren, abstrakten zionistischen Assimilationskri­tik präfiguriert: Die Verdienste und der Traum des deutschen Schriftstellers Nordau von der Anerkennung m Deutschland wer­den von den Antisemiten mit Hohn und Diskriminierung quittiert. Für sie ist und bleibt er in erster Linie der verhaßte Jude.

Daß Nordau Borkum und Deutschland verläßt und nach einigen Tagen des Herumirrens in Belgien und Holland nach Paris zurück­kehrt, ist auf der persönlichen Ebene das schmerzvolle Bewußtwer­den der Ohnmacht gegenüber dem Antisemitismus. Diese ganz per­sönliche Konfrontation mit dem Antisemitismus, der Nordau - so seine persönliche Erfahrung - die Anerkennung als deutscher Schriftsteller verwehrt und ihn ungeachtet seiner Verdienste um die deutsche Literatur lediglich als Juden beachtet und verachtet, macht ihn 1893 nur ratlos und verzweifelt. Erst über zwei Jahre später wird der Zionismus für ihn privat, aber auch auf der allge­meinen, weltanschaulichen Bühne zu der Antwort auf die Juden­frage. Daß diese aufgrund des Antisemitismus auch durch die vollkommene Assimilation nicht zu lösen sei, wird für Nordau auf Borkum Ereignis und persönliche Erfahrung. Seit seinem Börsen­ruin vom Juli 1891 war der Lebenstraum vom durch Rente gesicher­ten, sorgenfreien Wirken in Berlin finanziell zerstoben, seit dem Vorfall auf Borkum ist er es vermutlich auch ideell. Nordau bleibt in seinem Wahl-Exil Paris. Doch auch dort holt ihn, ein gutes Jahr nach Borkum, mit der Dreyfus-Affäre im Spätherbst 1894 der Antisemitis­mus endgültig ein.

Aber greifen wir nicht vor. In den Jahren 1892 und 1893 ist Eugen von Jagow der Brief- und Augenzeuge der Entstehung von Ent­artung. Im Sommer 1892 macht Nordau nicht, wie gewohnt und in seinen Kreisen üblich, am Meer Urlaub, sondern bleibt bei Mutter und Schwester in Paris und arbeitet am ersten Band. Am 14. Juli, die Grande Nation feiert ihren Nationalfeiertag, kann er von seinem Schreibtisch an von Jagow die Beendigung des Wagner-Kapitels,