Entartete Kunst?
205
Entartete Kunst?
Gerade einmal vierzig Jahre später sind es verhetzte Kleinbürger, die im Namen der Volksgesundheit gegen die Entartete Kunst mobilisiert werden. In einer Dialektik der Aufklärung ist aus der ursprünglich befreienden Exkulpierung der Krankheit, die nach christlicher Lehre als eine Folge der Sünde und Unmoral gegolten hatte, das Diktat der Volksgesundheit über die ganze Zivilisation, ihre Moral und Künste geworden. Unter den Bedingungen der Pathologisierung des gesamten Diskurses über Zivilisation, Moral und Kultur, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Wissenschaften, aber auch in weiten Kreisen des wissen- schafts- und fortschrittsgläubigen liberalen Bürgertums um sich greift, konnte schließlich jede der ja per definitionem vom hergebrachten Kunstkanon abweichenden Avantgarde-Künste als kranke, >entartete Kunst< disqualifiziert werden. Nordaus Entartung tut dies erstmals mit aller Radikalität und ist deshalb mit der Ideologie der Entarteten Kunst in Verbindung gebracht worden. 10
Als die Nationalsozialisten 1937 in München die Ausstellung Entartete Kunst eröffnen, in der praktisch die gesamte bildende Kunst der europäischen Avantgarde als entartet und krankhaft verunglimpft wurde, nachdem man sie zwangsweise aus den deutschen Museen und Sammlungen entfernt hatte, liegt die entscheidende intellektuelle Weichenstellung zu einer Pathologisierung der Zivilisations- und Gesellschaftskritik schon über hundert Jahre zurück. Sie war in diesem Zeitraum allerdings so populär geworden, daß aus der Innovation einiger Vorreiter des Positivismus eine stammtisch-taugliche Massenideologie für das gesunde Volksempfinden geworden war. Dieses Volksempfinden wurde in der Aus-
10 Diese Verbindung wurde mehrfach in einer kulturpolitischen Debatte im Jahr 1983 hergestellt und verworfen, die der Gebrauch der Begriffe »kulturelle Entartung« und »kulturelle Ermattung« in einer Rede des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß hervorgerufen hat. Begriffsgeschichtlich überzeugend wiederlegt ist der Konnex bei: Jens Malte Fischer, »Entartete Kunst. Zur Geschichte eines Begriffs«, in: Merkur 38 (1984) Heft 3, S. 346-352.