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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Entartung

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Stellung Entartete Kunst zufriedengestellt, nachdem die Vor­denker der braunen Diktatur die ursprünglich positivistische Ent­artungskritik aus ihrem Kontext gelöst und zu ihrer Ideologie gemacht hatten. Und ihrer Ideologie folgten Taten. Auch eine Dia­lektik der Aufklärung. 11

Nordaus Entartung markiert den Punkt, wo diese Dialektik kippt. Als er Entartung veröffentlicht, ist er ein Neuerer. Er ist, und er weiß das, wie seine dem ersten Band vorangestellte Widmung an den berühmten italienischen Psychiater Cesare Lombroso verrät, der erste, der den von Morel wissenschaftlich eingeführten Begriff der Entartung konsequent »auf Kunst und Schriftthum«, und zwar ganz konkret auf einzelne Künstler und ihre Werke ausgeweitet hat. 12 »Fin-de-siecle« heißt das erste Buch von Entartung, und Nordau hat wirklich eine ganze Epoche der europäischen Zivilisa­tion im Visier, die man in Frankreich erst nach dem Ersten Welt­krieg als »Belle Epoque« glorifiziert hat. 13 Furore macht vor allem die Radikalität, mit der er auf über 800 Seiten fast die gesamte euro­päische Avantgarde-Kunst des Fin de siede als entartet und damit als therapiebedürftig klassifiziert. 14

Unter den von Nordau kritisierten >Entarteten< sind ebenso be­rühmte wie gegensätzliche Literaten: Nietzsche und Wagner, Ibsen und Tolstoi, Wilde und Verlaine. Schon dies mußte Nordaus Gene­ralabrechnung verdächtig machen und heftigsten Widerspruch auslösen. Dabei hält Nordau sich eigentlich nur konsequent an die Prämisse der pathologisierenden Zivilisationskritik, daß alle

11 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (Am­sterdam 1947), Frankfurt/M. 1969, bes. die Kapitel »Begriff der Aufklärung«, S.8-41 und »Elemente des Antisemitismus«, S. 151-186.

12 Max Nordau, Entartung, Bd. 1, Berlin 1892, S. VIII.

13 Vgl. den Katalog der Ausstellung: Paris. Belle Epoque. 1880-1914, hg. v. Kulturstiftung Ruhr Essen, Recklinghausen 1994, S. 13 ff.

14 Jens Malte Fischer hat in seinem Werk »Fin de siede. Kommentar zu einer Epoche« (München 1978, S.52f.) Nordau mit Recht als den schärfsten Kritiker des Fin de siede hervorgehoben; vgl auch: Jens Malte Fischer, »Dekadenz und Entartung. Max Nordau als Kritiker des Fin de siede«, in: Roger Bauer u.a. (Hg.), Fin de siede, Frankfurt/M. 1977, S.93-111. Zu der überaus reichen Literatur über das Fin de siede bietet einen guten Überblick: Klaus Meyer-Minnemann, »Einige neuere Darstellungen des Fin de siede«, in: Romanistisches Jahrbuch 30 (1979, S. 112-126).