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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Entartung

digmata von Entartung kritisiert. Weder für den in der Ausstellung Entartete Kunst konstitutiven Rassismus (etwa den Vergleich moderner Skulpturen mit >primitiver< afrikanischer Kunst) noch für den Antibolschewismus oder für den Antisemitismus konnte Nordaus Entartung vereinnahmt werden. Und andere, eher zitier­fähige Auguren einer pathologisierenden Zivilisationskritik gab es 1937 schon im Dutzend.

Die schiere Namensähnlichkeit von Entartung und Entarteter Kunst hat mit der Armut der deutschen Sprache zu tun: Wo im Französischen degenerescence (Morel), degeneration und depra- vation (Rousseau), oder decadence 18 oft fast synonym gebraucht werden, bleiben im Deutschen, zumal in Zeiten, wo man Lehnwör­ter aus nichtgermanischen, >welschen< Fremdsprachen meidet, nur >Entartung< und >entartet< als Sammelbegriffe. Bei Nordau als über­zeugtem Darwinisten ist überdies die begriffliche Nähe von Entar­tung zu Darwins Entstehung der Arten sicherlich gewollt, gilt ihm doch Entartung als krankhafte Abweichung von der natürlichen Evolution der Arten. In der deutschen Sprache ist, wie uns das Grimmsche Wörterbuch verrät, das Substantiv »Entartung« für moralische Verwilderung seit Klopstock in Gebrauch.

Nordau kommt aus der damals fortgeschrittensten französischen Psychopathologie und von ihrem Begriff der degenerescence her. Degenerescence lautet folgerichtig der Titel der französischen Übersetzung von Entartung, die 1894 erschien. Entartung und De­generescence sind auch der Sache nach nicht mit Dekadenz zu ver­wechseln, obwohl beide Begriffe im Alltagssprachgebrauch und in der wissenschaftlichen Literatur oft verschwimmen. Dekadenz ist ein dem Modell des geschichtlichen Fortschritts entgegengesetztes Modell des geschichtlichen Rückschritts und Verfalls. Entartung hingegen ist in der Psychopathologie der Zeit und bei Nordau die Ausnahme von der Regel und eine Krankheit innerhalb eines Mo­

ls »Le Decadent« heißt eine 1886-1889 von Anatole Baju in Paris herausge­gebene Zeitschrift. Zur Wortgeschichte von decadence, die bei weitem am besten erforscht ist, vgl. Roger Bauer, »Decadence: histoire dun mot et dune idee«, in: Cahiers roumains detudes litteraires, 1 (1978), S.55-71, sowie ders., »Fin de siede et Decadence comme categories litteraires«, in: Neohelicon 3 (1975), S. 69-86.