Entartete Kunst?
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rung der Juden als pathologisch entarteter, nervöser Rasse durch eine weit umfassendere, allgemeine Kultur-Pathologie des Fin de siede überbietet, in der die Antisemiten selbst als an Verfolgungswahn leidende Entartete gebrandmarkt und pathologisiert werden. Nordau würde nach dieser Vermutung ganz bewußt und gezielt den Spieß >Entartung< gegen die Antisemiten umkehren. Wie Sander Gilman es für Freuds psychoanalytische Therapie der Neurosen zu zeigen versucht hat 23 , würde Nordau genauso wie Freud, allerdings einige Jahre früher, jene nervöse Erkrankung, die ihn als Juden nach Ansicht der Antisemiten selbst am meisten bedroht, durch eine allgemeine, neutrale, wissenschaftlich objektivierende Neudefinition der nervösen Erkrankung selber kontern. Die Strategie dabei ist, jeden jüdischen Kontext und jedes jüdische Fallbeispiel von nervöser Erkrankung oder Entartung nach Möglichkeit zu meiden und sich hinter einer ganzen Apparatur allgemeiner, wissenschaftlich neutraler Analyse und Begrifflichkeit zu verschanzen . 24 Noch Nordaus jahrzehntelanges Beharren auf seiner Entartungs-Kritik in ihrer ganzen Allgemeinheit wäre damit als Reaktion auf die zeitgenössischen antisemitischen Klischees und das Anwachsen des Antisemitismus zu verstehen.
Nun bieten weder Nordaus Werk Entartung noch seine Briefe einen Anhaltspunkt dafür, daß er seine Pathologie der Entartung strategisch gegen den Antisemitismus entworfen und eingesetzt hat. Es gibt keine Äußerung in dieser Richtung. Vielmehr können seiner Meinung nach auch Juden entartet sein. Alle Zeugnisse sprechen dafür, daß er von der wissenschaftlichen Richtigkeit seiner allgemeinen Pathologie tatsächlich fest überzeugt war. Es waren in erster Linie tatsächlich die Avantgarde-Kunst und ihr Publikum das Ziel seiner Angriffe und das Objekt seiner Entrüstung. Sie, nicht die Antisemiten, sind der Hauptgegner von Entartung. Daß Nordau bewußt oder unbewußt mit seiner allgemeinen Theorie von Entartung dem Rasse-Antisemitismus und seiner These vom entarteten jüdischen Volk entgegentreten wollte, bleibt zwar als Hy-
23 Gilman, The Jew’s Body, S. 208.
24 Vgl. Ken Frieden, Freud’s Dream of Interpretation, New York 1990, der diese Vermeidungsstrategie für Freuds Umgang mit jüdischer Traditionsliteratur, aber auch jüdischen Kollegen gezeigt hat.