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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Entartung

pothese nicht ausgeschlossen, ist aber nicht anhand von Texten po­sitiv verifizierbar und entzieht sich unserer Kenntnis. Die Hypo­these beruht dann auf einem argumentum e silentio, das für sich hat, daß der Diskurs des Rasse-Antisemitismus sicherlich ein Subtext aller wichtigen Werke von Nordau und auch seines eigenen Selbst­verständnisses gewesen ist.

Nicht zuletzt bleibt Nordaus Erfolg beim Publikum zu erinnern. Nordau schreibt Entartung für ein selbstbewußtes, liberales, gebil­detes, fortschritts- und wissenschaftsgläubiges Bürgertum, das dicke Bücher zu lesen bereit ist. Für dieses liberale Bürgertum schreibt Nordau anders als kulturpessimistische Autoren wie La- garde, Langbehn und später Spengler in der festen, fortschrittsopti­mistischen Überzeugung von der Überwindung der Entartung in der Zukunft. Es ist dieses Publikum, das Nordaus im Brustton und mit der Überzeugung des Aufklärers geschriebene Kritik des kultu­rellen Fin de siede, seiner Dunkelmänner und Decadents, kauft und goutiert. Vergessen wir nicht, daß Nordau, nachdem er von 1895 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum Paris-Feuille- tonisten der Wiener Neuen Freien Presse, der führenden liberalen Tageszeitung Österreich-Ungams, avanciert war, in eben seinen jährlich im Durchschnitt etwa 20 Pariser Kultur-Feuilletons ganz im Stil von Entartung über den Impressionismus, Fauvismus, Ku­bismus oder Rodin herfällt! Und keiner außer Karl Kraus in seiner Fackel erhebt laut dagegen Einspruch. ^

Hier verändert erst der Erste Weltkrieg die Situation total. Mit dem kulturellen Bruch des Kriegsendes und der Inflation verliert Nordau sein bisher kulturell tonangebendes, bürgerlich-liberales Publikum. Die von ihm pathologisierte antibürgerliche Kultur setzt sich durch; ein Sieg, der auch durch die Taten der braunen und roten Diktaturen nicht aufzuhalten war. Die braune Diktatur hat mit der Ausstellung Entartete Kunst die ursprünglich bürgerliche, liberal-positivistische Zivilisationskritik zur Ideologie und Mas­senpropaganda für Kleinbürger verwandelt. Sie schritt von der Kri­tik zur Tat, nachdem die ursprünglich antibürgerliche Kultur des Fin de siede nach dem Ersten Weltkrieg schon kanonisch gewor­den war.