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Entartung
pothese nicht ausgeschlossen, ist aber nicht anhand von Texten positiv verifizierbar und entzieht sich unserer Kenntnis. Die Hypothese beruht dann auf einem argumentum e silentio, das für sich hat, daß der Diskurs des Rasse-Antisemitismus sicherlich ein Subtext aller wichtigen Werke von Nordau und auch seines eigenen Selbstverständnisses gewesen ist.
Nicht zuletzt bleibt Nordaus Erfolg beim Publikum zu erinnern. Nordau schreibt Entartung für ein selbstbewußtes, liberales, gebildetes, fortschritts- und wissenschaftsgläubiges Bürgertum, das dicke Bücher zu lesen bereit ist. Für dieses liberale Bürgertum schreibt Nordau anders als kulturpessimistische Autoren wie La- garde, Langbehn und später Spengler in der festen, fortschrittsoptimistischen Überzeugung von der Überwindung der Entartung in der Zukunft. Es ist dieses Publikum, das Nordaus im Brustton und mit der Überzeugung des Aufklärers geschriebene Kritik des kulturellen Fin de siede, seiner Dunkelmänner und Decadents, kauft und goutiert. Vergessen wir nicht, daß Nordau, nachdem er von 1895 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum Paris-Feuille- tonisten der Wiener Neuen Freien Presse, der führenden liberalen Tageszeitung Österreich-Ungams, avanciert war, in eben seinen jährlich im Durchschnitt etwa 20 Pariser Kultur-Feuilletons ganz im Stil von Entartung über den Impressionismus, Fauvismus, Kubismus oder Rodin herfällt! Und keiner außer Karl Kraus in seiner Fackel erhebt laut dagegen Einspruch. ^
Hier verändert erst der Erste Weltkrieg die Situation total. Mit dem kulturellen Bruch des Kriegsendes und der Inflation verliert Nordau sein bisher kulturell tonangebendes, bürgerlich-liberales Publikum. Die von ihm pathologisierte antibürgerliche Kultur setzt sich durch; ein Sieg, der auch durch die Taten der braunen und roten Diktaturen nicht aufzuhalten war. Die braune Diktatur hat mit der Ausstellung Entartete Kunst die ursprünglich bürgerliche, liberal-positivistische Zivilisationskritik zur Ideologie und Massenpropaganda für Kleinbürger verwandelt. Sie schritt von der Kritik zur Tat, nachdem die ursprünglich antibürgerliche Kultur des Fin de siede nach dem Ersten Weltkrieg schon kanonisch geworden war.