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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Dialektik der Aufklärung

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Dialektik der Aufklärung

Bei Nordau, wie gesagt, kippt die Dialektik der Aufklärung. Die Vernunft bietet nicht mehr Maßstäbe zur Kritik des Bestehenden, sie wird selbst zur autoritären Kontrollinstanz im Dienste des herr­schenden Kunstkanons. Ihre Aufgabe bei Nordau wird »Hygiene des Geistes« 25 , der Kritiker zum Agenten einer Gedankenpolizei. Vernunft ermutigt nicht zum Selbstdenken, sondern sie denunziert die Abweichungen von als vernünftig definierten Normen: Fort­schritt, Evolution, Wissenschaftlichkeit, Modernität, Arbeit und Gesittung. Im Namen einer autoritär gewordenen Vernunft denun­ziert der Kritiker jede Normabweichung als Entartung. Alles, was der Norm des als >vemünftig< definierten, unendlichen, evolutionä­ren Fortschritts der Menschheit bei ihrer Perfektionierung des Schönen, Wahren, Guten und Vernünftigen nicht entspricht, ist dieser Entartung verdächtig und wird als >unvernünftig< pathologi- siert. ^

Da der darwinistische Glaube an den unendlichen Entwick­lungs-Fortschritt zum Nutzen der Menschheit in allen Zivilisa- tions- und Lebensbereichen zum Vemunft-Maßstab aller Dinge und Handlungen gerät, trägt alles Abweichende, ja Regredierende, den Makel des Unvernünftigen. Wo unendlicher Fortschritt zum Maßstab der Vernunft erklärt wird, ist auch jede abweichende Form von Rationalität, auch die in andersartigen Kunst- und Zivili­sationsleistungen, der Entartung verdächtig und wird als eine Form des Irreseins pathologisiert. Entartung gilt Nordau, vergessen wir das nicht, als Geisteskrankheit. Wo die Vernunft als progressive sich definiert und doktrinär wird, erzeugt sie via Ausschließung die ihr eigene Unvernunft: Der Denker und Künstler, der nicht an den kollektiven Fortschritt der Menschheit in allen Bereichen glaubt, wird als irre disqualifiziert . 26

25 Max Nordau, Entartung, Bd.II, Berlin 3 1896, S.558 (abgekürzt: Entartung II558).

26 »Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst. Die reine Imma­nenz des Positivismus, ihr letztes Produkt, ist nichts anderes als ein gleichsam universales Tabu. Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen Quelle der Angst ist.« (...) »Das Tatsächliche behält