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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Die Dialektik der Aufklärung schlägt auch dort um, wo Kritik in die blanke Denunziation und intellektuelle Erledigung, ja Vernich­tung des Kritisierten sich verwandelt. Je stärker Nordau seine eigene Vernünftigkeit argumentativ strapazieren muß, um so unver­nünftiger, ergo: geisteskranken - das ist die Logik des Diskurses - müssen die Kritisierten sein. Und ein anderes Mittel und Kriterium als das der Pathologisierung bei ästhetischer und weltanschau­licher Normabweichung hat Nordaus Kritik ja nicht: Alles kann nur entweder gesund oder eben krank sein. Tertium non datur.

Überdies ist Nordau ein Verbalradikaler, der in manchen Sätzen nicht nur in seiner Metaphorik gewalttätig ist. Er ist bereit, »den Daumen auf das gesellschaftsfeindliche Ungeziefer zu drücken «. 27 Zu Nietzsches Vorstellung vom Menschen als »frei schweifendes lüsternes Raubthier« merkt er an: »Für das lüsterne Raubthier ist bei uns kein Platz und wenn du dich unter uns wagst, so schlagen wir dich unbarmherzig mit Knüppeln todt .« 28 Das ist durchaus schon die Sprache der »autoritären Biologie« (Helmuth Plessner) späterer Zeiten, aber es ist nur deren Sprache. Nordau ist nie zur Tat geschritten wie die Diktatoren und ihre Schergen.

Wir wissen auch nicht, wie er sich verhalten hätte, wenn er die Macht dazu gehabt hätte, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Nordau ist nicht, wie in Herzls utopischem Roman Altneuland an­gedeutet, als »Dr. Marcus« der Akademie-Präsident des Judenstaa­tes geworden . 29 Trotz allem Verbalradikalismus war er ein Libera­ler. Sein Verbalradikalismus verdankt sich sogar den Bedingungen des liberalen Rechtsstaats. Einerseits sind die Gewalt des Gefäng­nisses und der modernen psychiatrischen Anstalt für Nordau not­wendig und legitim. Aber gerade da Nordau weiß, daß im moder­nen Rechtsstaat Staatsanwaltschaft und Polizei gegen die von ihm

recht, die Erkenntnis beschränkt sich auf seine Wiederholung, der Gedanke macht sich zur bloßen Tautologie (...). Damit schlägt Aufklärung in die Mytholo­gie zurück, der sie nie zu entrinnen wußte.« Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 18 u. 27 f.

27 Entartung II554.

28 Entartung II555.

29 Theodor Herzl, Altneuland, in: »Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.« Alt­neuland/Der Judenstaat, hg. v. Julius H. Schoeps, Königstein 1978, S. 169ff.; 184 f.