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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Dialektik der Aufklärung

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kritisierten Künstler nicht einschreiten werden, müssen die Presse und die Irrenärzte »vor die Front treten«. 30 Die verbale Kritik ist um so schärfer und radikaler, je schwächer die Möglichkeiten eines tatsächlichen Einschreitens sind. Nur die intellektuelle Pathologi- sierung bot in einem liberalen Rechtsstaat wie der französischen Dritten Republik noch die Handhabe, gegen die durch die Freiheit der Kunst legal geschützten Künstler überhaupt vorzugehen. Inso­fern ist die Pathologisierung und die mit ihr verbundene, wenn auch ferne Möglichkeit legaler Gewaltanwendung gegen die Patho- logisierten eine Versuchung für den gesamten Diskurs über Kunst und Zivilisation im modernen Rechtsstaat.

Gemäß seiner Theorie ist Nordau ohnehin vom direkten Eingrei­fen salviert, denn seiner Prognose nach ist Entartung lediglich ein vorübergehender Zustand, eine epochale Krankheit des Fin de siede. Nordau ist Darwinist und fest überzeugt, daß die natürliche Selektion alles Kranke, auch die Entarteten, früher oder später auf natürlichem Wege beseitigen wird. Entartung hat, evolutionistisch betrachtet, keine Zukunft. »Entartung schließt Anpassungs-Fähig­keit geradezu aus. Der Entartete kann also kein Fortschritts-Factor werden«, heißt es in einem Brief an den Freund von Jagow. 31 Die Entarteten können gegen die Gesunden im Kampf ums Dasein nicht gewinnen. Die Evolution geht über die Entartung hinweg. Das ist ein natürlicher Selektionsprozeß, den der Arzt und Kunst­kritiker durch sein Tun ins Bewußtsein seiner Zeitgenossen heben kann, der sich jedoch auch ohne äußeren Zwang vollziehen wird.

In diesem Punkt unterscheidet sich Nordau von Morel und dem nach ihm benannten »Morelschen Gesetz« in der Psychopatholo­gie, das die Vererbung der Entartung durch die Generationen und damit ein ständiges Wachsen der Entartung in der Bevölkerung prognostiziert. Auch Nordau glaubt, wie fast alle Psychopatholo- gen des 19. Jahrhunderts, an die Erblichkeit von Entartung und der meisten anderen Geisteskrankheiten. 32 Aber eine unendliche Ver­breitung der Entartung wird durch die evolutionsbedingte Selek­tion im Sinne Darwins verhindert. Dies unterscheidet Nordaus

30 Entartung II556.

31 Brief Nordau - von Jagow v. 23.8.1892 (ZZA A 119/283/90).

32 Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse Blut und Gene, S. 47f.

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