Erster Band und eine Widmung von Bedeutung
219
Werke an. Dabei sind Nordaus konkrete Urteile häufig an den Haaren herbeigezogen und ihre >medizinische< Begründung vollkommen willkürlich. Dennoch ist der medizinische Gestus Nordaus kein rhetorischer, seine Kenntnisse der Fachliteratur sind tatsächlich ausgezeichnet. Bis in die Sprache und in die Kapiteleinteilung des Werkes hinein bleibt er dem medizinischen Vokabular und der ärztlichen Diagnose treu, die in seinen Augen allein eine streng wissenschaftlich fundierte, auf dem höchsten Stand der zeitgenössischen Wissenschaft befindliche Zivilisationskritik verheißt. Es ist diese explizit bezogene ärztliche Position, die Entartung von Nordaus früheren, ebenfalls zivilisationskritischen Werken Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit und Paradoxe unterscheidet. Denn dort hatte Nordau noch vom Standpunkt des gesunden, positivistisch überzeugten Menschenverstandes aus Zivilisationskritik geübt; in Entartung bezieht er sich ausdrücklich immer wieder auf die moderne Psychopathologie als Fundament der Kritik.
Dabei ist die Psychopathologie selbst eine absolut neue, geradezu avantgardistische Wissenschaft, die soeben gegen konservative Widerstände ihre erste Anerkennung auch innerhalb der medizinischen Fakultäten erstritten hatte. Nordau kann sich als Charcot- Schüler und Lombroso-Freund mit einigem Recht als an der Spitze eines hochmodernen Zweigs der Medizin stehend betrachten; seine Zitate und seine Literaturnachweise zeigen, daß er tatsächlich die zeitgenössische Fachliteratur von Psychologie und Psychopathologie, allen voran die französische, genau kennt und sich ständig auf dem laufenden hält.
Dem psychopathologischen Kritikanspruch Nordaus entspricht dann auch die äußere Einteilung der zwei Bände von Entartung: Das Werk besteht aus fünf Büchern, deren zwei den ersten Band füllen, während drei weitere Bücher den zweiten Band ausmachen. Das erste Buch »Fin-de-siecle« übernimmt den Part einer medizinisch-wissenschaftlichen Begründung der Entartungs-Diagnose, das fünfte Buch »Das 20. Jahrhundert« ist eine Zusammenfassung von Ergebnissen. Beide Bücher sind intern in Kapitel unterteilt, die durch ihre Titel den medizinischen Anspruch des Werkes annoncieren: Das erste Buch nimmt sich »Symptome«, »Diagnose« und »Aetiologie« vor, betreibt also, klinisch ausgedrückt, Anamnese,