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Entartung
völlig neuen Krankheitsbildem. Auch die Krankheitsbilder haben sich mit der ganzen Zivilisation historisch verändert. »Man hat in den letzten zwanzig Jahren eine Anzahl neuer Nerven-Krankhei- ten entdeckt und benannt. Man glaube nicht etwa, daß sie immer vorhanden waren und nur übersehen worden sind. (...) Wenn man also die neuen Nervenkrankheiten nicht bemerkte, so ist dies eben, weil sie früher nicht vorkamen. Und sie sind ausschließlich eine Folge der heutigen Lebensbedingungen der gesitteten Menschheit. « 55 Entartung und Hysterie sind demnach nicht Geisteskrankheiten, die es, historisch invariant, immer schon gegeben hätte. Vielmehr sind sie Krankheiten der Moderne selbst, eigentlich deren Krankheiten par excellence, die unter bestimmbaren historischen Umständen entstehen oder auch wieder vergehen können . 56 Alle ihre Symptome seien in der zeitgenössischen Fachliteratur und Statistik reich belegt - genauso wie die steigende Zahl von Zahnbehandlungen, Brillenträgern oder Selbstmördern . 57
Nordau verfährt in seiner Ätiologie dabei in höchst angreifbarer Manier: Er schließt nämlich von den vermeintlichen Symptomen der Entartung, die er in Werken der Malerei, Literatur, Musik oder bildenden Kunst wahrzunehmen meint, auf den Geisteszustand der Künstler zurück. Der Bruch ist ein doppelter: Zuerst wird eine ziemlich ungenaue Symptomatologie auf das in den Werken Dargestellte übertragen oder, in sie hineingetragen - was selten ohne Zwang möglich ist. Sodann wird das in den Werken Dargebotene ohne den Vorbehalt künstlerischer Freiheit, Innovation, Kreativität oder Phantasie als direkter Ausfluß, als Abbild oder Symptom des Geisteszustandes seines Urhebers genommen, der so als Entarteter abgestempelt werden kann. Mit intellektuellen Gewaltakten
55 Entartung 175.
56 Vgl. hierzu und zu den historischen Wandlungen der in der Psychiatrie und Psychoanalyse diagnostizierten Krankheiten und Krankheitsbilder: Johann Hendrik van den Berg, Metabletica. Über die Wandlung des Menschen. Grundlagen einer historischen Psychologie, Göttingen 1960.
57 Entartung I 76f. Thomas Masaryks Buch Der Selbstmord als Massenerscheinung der modernen Civilisation (Wien 1881) hatte dies ä propos des Sui- cids sehr prominent behauptet und statistisch nachgewiesen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Nordau diese Studie des späteren Präsidenten der Tschechoslowakei kannte.