Erster Band und eine Widmung von Bedeutung
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dieser Art bei zugleich unbestritten großer Kenntnis der Werke füllt Nordau dann Hunderte von Seiten.
Der Mysticismus. Im ersten Kapitel des zweiten Buches von Entartung mit der Überschrift »Psychologie des Mysticismus« versucht sich Nordau noch einmal in einer genaueren psychologischen Begründung des Entartungsvorwurfs gegen eine bestimmte Untergruppe von Entarteten: die Mystiker. Der »Mysticismus« ist, wie er gleich zu Anfang schreibt, keine Klassen- oder Rassenfrage, er ist ein Geisteszustand 58 , der im übrigen bei Männern ebenso wie bei Frauen anzutreffen ist. Männliche Hysteriker und Degenerierte, so Nordau anders als Freud oder sein Lehrer Charcot, sind genauso häufig wie weibliche . 59
Knapp gesagt, unterscheidet Nordau dann zwei Typen des entarteten Mysticismus, einen, der auf angeborener oder erworbener Willensschwäche beruht und sich durch ungezügelte, willkürliche Ideen-Assoziationen, verworrene Denkweise und Wortzusammenstellungen sowie die Verbindung von Alltagserscheinungen mit sexuellen Phantasien verrät . 60 So vergleicht er unter Berufung auf Untersuchungen und Krankengeschichten Legrains die moderne französische Lyrik mit den sinnlosen Wortzusammenstellungen bei Geisteskranken.
Der zweite Typus des entarteten Mysticismus gleicht den Symptomen nach dem ersten zum Verwechseln: Er besteht in dem häufigen Auftreten von Ideen-Assoziationen, die originell, brillant und witzig scheinen, in Wirklichkeit jedoch nur die Unfähigkeit zu Aufmerksamkeit und Selbstzucht verbergen . 61 Dies alles resultiere aus der »übermäßigen Reizbarkeit einzelner Zellengruppen der Hirnrinde«, einer Anomalie der Reizbarkeit des Gehirns 62 , wie uns Nordau mit autoritärer naturwissenschaftlich-medizinischer Gebärde ohne jede weitere wissenschaftliche Begründung wissen läßt.
58 Entartung I 75.
59 Ebd.
60 Entartung I 94-99.
61 Entartung 1104.
62 Entartung 1100.