Zweiter Band
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vielen anderen, als ein nicht besonders gravierendes Krankheitssymptom unter anderen. Immerhin gilt er Nordau schon 1892 als Krankheitsphänomen, mithin als pathologisch. Und als »deutsche Hysterie«, die ihn als deutschen Schriftsteller jüdischer Herkunft besonders trifft. Aber als solcher erscheint der Antisemitismus, wie alle Phänomene der Geisteskrankheit Entartung, noch heilbar bzw. als durch natürliche Selektion in Zukunft verschwindendes Phänomen. Erst nach seiner Wendung zum Zionismus erscheint der Antisemitismus bei Nordau als unheilbares bzw. nur durch einen Judenstaat zu bewältigendes Problem aller westlichen, auch der liberalsten Staaten und Gesellschaften. 103
Zweiter Band
Mit dem dritten Buch über die lch-Sucht eröffnet Nordau den zweiten Band von Entartung, der 1893 erscheint. Wie zuvor schon jeweils am Anfang der vorhergehenden Bücher, wird zunächst im ersten Kapitel in groben Zügen die »Psychologie der Ich-Sucht« Umrissen. Ich-Sucht sei nicht mit Selbstsucht zu verwechseln, führt Nordau aus, egotisme sei nicht egoisme. Denn bei Selbstsüchtigen sei die Weltwahrnehmung nicht gestört, wohl aber bei Ich-Süchti-
103 Diese These steht in Gegensatz zu der von Moshe Halevi, der die Entartungs-Diagnose Nordaus in direkten ursächlichen Zusammenhang mit seiner Entscheidung für den Zionismus bringt und diese Entscheidung hauptsächlich in der Entartungs-Diagnose begründet sieht. Nordau wird so in seiner berechtigten Kritik an der >Entartung< besonders Wagners und Nietzsches gewissermaßen zum Propheten der nationalsozialistischen In-Gebrauch-Nahme derselben und aller daraus folgenden Entartungen des 20. Jahrhunderts. Abgesehen vom historischen Hysteron-Proteron dieser These spielt die Antisemitismus-Kritik in »Entartung« eine viel zu marginale Rolle (insgesamt 1,5 von über 800 Textseiten), um einen ursächlichen Zusammenhang von Entartungskritik und Zionismus Nordaus zu behaupten. Vgl. Moshe Halevi, mn’xn nyuna ftjnsi rovxn irmn •1XTTU opxn (Max Nordau. Sein zionistisches Denken und sein Wirken in der zionistischen Bewegung; Hebräisch), Diss. phil. Tel Aviv 1988, Bd. II, S. III—VI. Halevis Theorie wird nachhaltig korrigiert in: Steven E. Aschheim, The Nietzsche Legacy in Germany 1890-1990, Berkeley 1992.