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Entartung
gen, die sich wie alle Entarteten durch übergroße Erregbarkeit sowie Willens-, Gedächtnis- und Urteilsschwäche auszeichnen . 104
Typisch für die Ich-Sucht ist die unrealistische Selbstüberschätzung des Ich. Einer solchen Selbstüberschätzung werden, in philo- sophicis, Berkeley und der deutsche Idealismus geziehen. Namentlich Fichtes Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich, Bewußtsein und Natur sei ein »Denkfehler «. 105 Der menschliche Organismus bestehe aus denselben Stoffen wie die ganze ihn umgebende Welt, der Mensch und sein Bewußtsein seien nur Teil der Natur und qualitativ nichts anderes als Natur, beschreibt Nordau noch einmal knapp sein monistisches Glaubensbekenntnis von der »Einheit der Natur, in der auch jeder Organismus ein mit dem Ganzen zusammenhängender Theil ist «. 106
Der entartete Ich-Süchtige ist zu Altruismus, zum Heraustreten aus den Grenzen der Individualität nicht fähig. Er beschäftigt sich nur mit sich selbst und nimmt die Außenwelt kaum wahr . 107 Diese mangelnde Außenwahmehmung führt dann zu Selbstüberschätzung, für die Mallarmes Diktum, die Welt sei geschaffen, um ein gutes Buch entstehen zu lassen, ein beredtes Beispiel ist. Für Nordau ist Mallarme sowohl ein Mysticist als auch ein Ich-Süchti- ger . 108 <t‘
Mangels Weltwahmehmung fehlt dem Ich-Süchtigen die Wahrnehmung der Mitmenschen und damit Mitgefühl und Solidarität; hier knüpft Nordau implizit an die utilitaristische Solidaritätsmoral seiner Conventionellen Lügen der Kulturmenschheit an. Es fehlt dem Ich-Süchtigen aber auch die Fähigkeit zur Anpassung an die Realitäten der Welt. In seiner Empörung gegen alles Bestehende kann er nur Jakobiner und Revolutionär sein, niemals geistesklarer Reformer und Neuerer, der wirklichen Fortschritt herbeiführt . 109 Ein gesunder »Gesellschafts-Körper« sollte daher, so Nordau in der Sprache der Parasitenbekämpfung, fähig zur »Ausscheidung«
104 Entartung II5 f.
105 Entartung II17.
106 Entartung II17.
107 Entartung II23.
108 Entartung II30.
109 Entartung II37-39.