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Entartung
setze vielmehr sich aus Lastern, Verbrechen und Verwesung zusammen. Eindrucksvolles Beispiel hierfür sei Baudelaire mit seinem unseligen Einfluß auf die französischen und englischen Dichter der Epoche. Für die Entartetheit Baudelaires zeugt nicht erst sein Tod in geistiger Umnachtung, sondern schon sein Leben als Mystiker und Erotomane, Haschisch- und Opiumesser, Verehrer von Thomas de Quincey und Edgar Allan Poe. Für Nordau ist Baudelaire allerdings ein »höherer Entarteter«, denn er fühlt, »daß seine Verwirrungen krankhaft, unsittlich und gesellschaftsfeindlich sind«. 114 Damit sind sie in Widerspruch zum gesunden Volksempfinden und zu Nordaus gemeinutilitaristischer Solidaritätsmoral, in deren Dienst Nordau seine ansonsten bemerkenswert guten Kenntnisse der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts stellt.
Decadenten und Aestheten. Die »Decadenten«, französisch: de- cadents, gibt es dem Namen nach seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts, Theophile Gautier liefert in seinem Vorwort zu den Fleurs du mal Baudelaires ihre Theorie und Rechtfertigung. 115 Mit Grimm und wider Willen würdigt Nordau Baudelaire als den bedeutendsten Anreger der französischen Literatur in der zweiten Jahrhunderthälfte. Baudelaires Schule hat wie ein Prisma verschiedene seiner entarteten Anregungen fortgesetzt. Die Nekrophilie erbte Rollinat, die sexuellen Verirrungen und die Lüsternheit der deswegen zeitweise gerichtlich belangte Catulle Mendes und andere der »neueren französischen Pomographen«, Baudelaires Verherrlichung von Verbrechen schließlich beerbte Jean Richepin. 116 Den Mystizismus erbten die Symbolisten, Verlaine erbte die Mischung von Wollust und Frömmigkeit, Swinburne in England schließlich den Sadismus. 117 Den Diabolismus Baudelaires pflegten besonders Villiers de l’Isle und Barbey d’Aurevilly, der wie-
114 Entartung II86.
115 Entartung II91.
116 Entartung II87.
117 Entartung II 88. Der psychopathologische Begriff Sadismus ist hier ganz neu und neumodisch. Er wurde nur sieben Jahre zuvor geprägt und in die Fachwelt eingeführt in: Richard von Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis, Stuttgart 1886; einem Buch, das Nordau kannte und zitiert.