Entartung
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sten in Europa Bestand 171 ; Gerhart Hauptmann ist ein Autor von »Hochachtung abnöthigender Genialität«, der mit Die Weber sein bisher bestes Stück vorgelegt habe, wenngleich seine frühen Stücke noch etwas von »Modemitätsmarktschreierei« hätten. 172 Der Realismus der Weber sei nicht Wiedergabe von wahrem Leben, sondern Stoff, der durch Beobachtung erworben wurde; insofern sei das Stück geradezu eine Widerlegung des sich selbst mißverstehenden »Realismus« anderer Autoren.
Die deutsche Literatur seit 1870 sei in einem Zustand der »Versumpfung«: »Unser Literaturstaat ist nicht regiert und nicht ver- theidigt. Er hat keine Obrigkeit und keine Polizei (...).« 173 »Und wie wir keine Gerusia haben, so fehlt es uns auch an jeder kritischen Polizei. Ein Rezensent kann das höchste Meisterwerk tot- schweigen oder in den Koth ziehen (...). Niemand zieht ihn zur Verantwortung, niemand brandmarkt seine Unfähigkeit, seine Schamlosigkeit oder Verlogenheit.« 174 Womit Nordau sich dem deutschen Publikum zum wiederholten Mal als jene »kritische Polizei« andient, die den Augiasstall des Fin de siede ausmistet.
Das zwanzigste Jahrhundert: Prognose. Das fünfte Buch von Entartung nimmt den Faden des ersten wieder auf: Nach dem Rundumschlag gegen die künstlerische Avantgarde des Fin de siede kehrt Nordau zu den medizinisch-wissenschaftlichen Grundlagen seiner naturwissenschaftlichen Weltanschauung und seiner Psychopathologie des Fin de siede zurück. Er wiederholt die Diagnose des ersten Buches: »Wir stehen nun mitten in einer schweren geistigen Volkskrankheit, in einer Art schwarzer Pest von Entartung und Hysterie.« 115 Aber die Prognose dieser geistigen Volkskrankheit sieht nicht so düster aus wie die Diagnose. Halb Darwinist, halb Lamarckianer, sagt Nordau voraus, daß die Kranken im Kampf ums Dasein (Darwin) nicht werden bestehen können, weil ihnen die nötige Anpassungsfähigkeit (Lamarck) fehlt:
171 Entartung II423.
172 Entartung II447-451.
173 Entartung II463.
174 Entartung II464 f.
175 Entartung II521.