Druckschrift 
Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
Seite
272
Einzelbild herunterladen

272 Dreyfus und die Folgen

sohn während dessen Präsidentschaft einer der intellektuellen Köpfe der Bewegung mit stärkstem Einfluß. Zuletzt ist er, nachdem Otto Warburg nach 1911 Wolffsohn abgelöst hat, allerdings stark isoliert und spielt weder in der Exekutive noch als Propagandist des Zionismus irgendeine nennenswerte Rolle. Als der »grand old man« des Zionismus 1919/20 für neun Monate in London weilt, wird er von Weizmann und seiner Gruppe, die die zionistische Exe­kutive übernommen hatten, regelrecht kaltgestellt.

Aber so weit nur das Auf und Ab, das Schicksal Nordaus in der zionistischen Bewegung. Nordau selbst beschreibt 1909 im Rück­blick anläßlich des Erscheinens seiner Zionistischen Schriften seine vielfältigen Aktivitäten als intellektueller Repräsentant, Mit­streiter und Vordenker der zionistischen Bewegung ganz korrekt als »Verbreitung, Erläuterung, Verteidigung des zionistischen Ge­dankens«. Damit ist die Art seines Einsatzes für den Zionismus gut gekennzeichnet: Er ist Ratgeber und Redner ohne direkte exekutive Funktionen. Seine Zionistischen Schriften dokumentieren nur einige wenige seiner äußerst anstrengenden und zeitraubenden, mit Reisen verbundenen, in vielen Jahren zu den verschiedensten Anlässen entstandenen zionistischen Polemiken und Reden. »Ich sage: einige, denn von mindestens fünfzig Reden, die ich in Paris, Mülhausen, Köln usw. zur Verbreitung, Erläuterung, Verteidi­gung des zionistischen Gedankens gehalten, ist keine Aufzeich­nung bewahrt, und ebensowenig erwies es sich als möglich, auch nur eine Auswahl der kaum zu zählenden Briefe an Zeitungen, Botschaften an Parteikongresse und öffentliche Versammlun­gen, Sendschreiben an Vereine und Verbindungen, Beiträge für Gelegenheits-, Fest- und fubiläumsschriften zu vereinigen, die ich im Laufe der fahre zur Anfeuerung, Aufklärung und Abwehr zu schreiben genötigt wurde .« 37

Es bleibt bei dieser unerschöpflichen Aufzählung von Aktivitä­ten jedoch unerklärt, warum ein kosmopolitischer Intellektueller von europäischem Ruf mit einer gesicherten Existenz in Paris sich überhaupt solchen jahrzehntelangen Anstrengungen unterzieht und sich einer wild zusammengewürfelten Gruppe von Utopisten des Judenstaates anschließt. Nordau selbst nennt hier nur einen

37 Max Nordau, Zionistische Schriften, Köln / Leipzig 19t>9, Vorwort, o. S.