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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Nordaus Zionismus

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Grund: Das Anwachsen und die Unausrottbarkeit des Antisemi­tismus, der ihn wieder an sein Judesein und die Ungelöstheit der Judenfrage erinnerte.

So richtig es ist, die in seinen kulturkritischen Büchern grundge­legte »naturwissenschaftliche Weltanschauung« Nordaus als prä­gend auch für sein Verständnis und seine Fasson von Zionismus zu beschreiben, so wenig ist sie Ursache für sein zionistisches Engage­ment. Selbstverständlich erklärt er Antisemiten im allgemeinen, Autoren wie Richard Wagner oder Julius Langbehn im besonderen, für Entartete und für unter Verfolgungswahn leidende Irre. Aber Entartung ist nicht die Ursache des Antisemitismus, vielmehr ist der Antisemitismus eines von Dutzenden von Phänomenen der Entar­tung. Darum kann jedoch die von Nordau vorausgesagte, natür­liche Überwindung der Entartung durch Selektion den Antisemitis­mus nicht aus der Welt schaffen, denn Entartung ist nicht dessen Ursache. Gegen den Antisemitismus bedarf es eines anderen Heil­mittels. Den Antisemitismus kann zwar auch ein Judenstaat nicht aus der Welt schaffen, aber ein eigener jüdischer Staat würde die Judenfrage lösen, insofern er den Juden Schutz vor dem Antise­mitismus böte.

Nordau selbst spricht nur vom Antisemitismus, nicht, wie sonst so häufig, von seiner Analyse der Entartung im Fin de siede, als Grund seines Engagements für den Zionismus: »Erst das Anwach­sen des Antisemitismus weckte in mir das Bewußtsein der Pflich­ten gegenüber meinem Volke und die Initiative fiel meinem teu­ren Freunde Herzl zu, zu dem ich in Paris in sehr nahe Beziehun­gen trat.« 38 Was Nordau selbst hier bekenntnishaft in Meine Selbstbiographie schreibt, ist auch durch eine von Herzls Auf­zeichnungen in seinem Zionistischen Tagebuch vom 6. Juli 1895 bezeugt: »Gestern mit Nordau beim Bier. Natürlich auch über Judenfrage gesprochen. Nie habe ich mit Nordau so harmonirt wie da. Wir sprachen uns Einer dem Anderen das Wort aus dem Mund. Nie merkte ich so stark, dass wir zusammengehören. Mit dem Glauben hat das nichts zu thun. (...) Auch darin waren Nordau und ich einig, dass uns nur der Antisemitismus zu Juden

38 Max Nordau, »Meine Selbstbiographie«, in: ders., Zionistische Schriften,

Köln 2 1923 ,S. 486 .