Druckschrift 
Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
Seite
274
Einzelbild herunterladen

274

Dreyfus und die Folgen

gemacht habe .« 39 Der Antisemitismus hat Nordau, wie Herzl, zum Juden und zugleich Zionisten gemacht.

Die wissenschaftliche Weltanschauung ist dagegen dafür ent­scheidend, wie das Engagement Nordaus für den Zionismus aus­fällt: Einerseits fordert ergänz einfach praktische Solidarität 40 mit den unterdrückten und in Pogromen verfolgten jüdischen Massen Osteuropas. In diesem Sinne propagiert er einen politischen Zio­nismus mit dem langfristigen Ziel der Staatsgründung in Palästina. Aber kurzfristig unterstützt er auch ganz pragmatisch den Land­kauf und die Ansiedlung dort . 41 Andererseits bleibt er, was beim Autor von Entartung und den Conventionellen Lügen nicht er­staunen kann, auf Distanz zur jüdischen Religion und auch zum Kulturzionismus etwa eines Achad Haam. Wie die Polemik Nord­aus gegen Achad Haam zur Verteidigung von Herzls Altneuland in der Welt zeigt 42 , beharrt Nordau auf der Geltung und dem Vorrang der bürgerlichen Kultur Westeuropas gegenüber allen Versuchen, so etwas wie eine spezifische, eigenständige jüdische Kultur zu ge­stalten. Trotz seines ärztlichen Einsatzes für Körperertüchtigung und »Muskeljudentum « 43 gegen die körperlich-kulturelle Entar­tung auch der Juden wendet sich Nordau strikt gegen alle vom »entarteten« Nietzsche inspirierten Lebensreform-Ideale oder gar irgendeine Lebensphilosophie. Er zieht Opernhäuser und weiße Handschuhe den Pionier- und Kibbuzidealen bei der Kolonisie-

39 Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. II, S. 210.

40 Hierin ist der These von Meir Ben-Horin recht zu geben, der aus Nordau allerdings gleich einen »philosopher of human solidarity« machen möchte, ob­wohl die utilitaristischen Ausführungen zur Solidarität in seinen Hauptwerken nur einen bescheidenen Platz einnehmen; vgl. Meir Ben-Horin, Max Nordau. Philosopher of Human Solidarity, New York 1956. Dieses Buch enthält die bis­lang umfangreichste Bibliographie von Werken Nordaus und über Nordau.

41 Seine Rede für die Ansiedlung der Siedler im » Nachtasyl« Uganda auf dem Zionistischen Kongreß 1903 hielt er gegen seine persönliche Überzeugung, um Herzl aus der Bredouille zu helfen; vgl. Alex Bein, Theodor Herzl. Biographie, Wien 1934, S. 628ff. Aufgrund dieser Rede wurde sogar ein Attentat auf Nordau ausgeübt, das dieser leicht verletzt überlebte.

42 »Ahad Haam über >Altneuland<. Von Max Nordau«, in: Die Welt, 13.3.1903.

43 »Muskeljudentum«, in: Max Nordau, Zionistische Schäften, Bd. II, Köln/ Leipzig 1909, S. 219-223.