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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Nordaus Zionismus

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rung Palästinas vor. Der Judenstaat, das ist für Nordau die Trans­plantation der höchsten kulturellen, technischen und wissen­schaftlichen Leistungen Westeuropas in einen säkularen jüdischen Staat im Nahen Osten.

In mehreren seiner großen Kongreßreden versucht Nordau seine Zuhörer von der Unmöglichkeit der Assimilation zu überzeugen. Vor allem die Judenheit Westeuropas werde auch durch extremste Assimilation den Antisemitismus niemals überwinden. Noch die höchsten kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen und Bei­träge von Juden zu den entwickelten Gesellschaften des Westens werden vor den Antisemiten niemals Anerkennung finden und werden die Judenfeindschaft nicht beseitigen helfen. Diese beiden zentralen Momente in Nordaus Zionismus, das Beharren auf den Werten der entwickelten bürgerlichen Kultur ebenso wie die Über­zeugung vom Scheitern wirklicher Emanzipation der Juden, haben nur vermittelt mit den Analysen von Entartung zu tun.

Nordaus Wendung zum Zionismus kann daher nicht als direkte Folge oder als Antwort auf seine in mehreren Büchern geäußerte Kulturkritik betrachtet werden. Denn dort schreibt er, daß die na­türliche Selektion innerhalb weniger Generationen die Entartung des Fin de siede beseitigen wird, nicht ein Judenstaat. Nordaus Zio­nismus ist eine Konsequenz aus der Unausrottbarkeit des Antise­mitismus selbst noch in den entwickeltsten demokratischen Ge­sellschaften, von Rußland ganz zu schweigen. Nordau ist dabei in der schwierigen Situation, daß diese fortgeschrittenen bürgerlichen Gesellschaften, deren höchste kulturelle Standards er in Entartung gegen jede Dekadenz verteidigen will, ausgerechnet in der Juden­frage kraß versagen. Die Judenfrage bedarf deshalb einer politi­schen Lösung durch einen Judenstaat, der zugleich jedoch kulturell die höchsten humanistischen, technischen und wissenschaftlichen Standards dieser Gesellschaften übernehmen soll.