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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Dreyfus und die Folgen

Nordau und Herzl

Unter den Gründervätem des modernen, politischen Zionismus war Nordau zu Anfang der mit Abstand international bekannteste Mann. Seine Bücher sind schon in mindestens ein Dutzend Spra­chen übersetzt, er ist Kulturkritiker von europäischem Ruf, aber er ordnet sich innerhalb der zionistischen Bewegung der charismati­schen Führergestalt seines Freundes Herzl trotz anfänglich verletz­ter Eitelkeit 44 und gelegentlicher Reibereien schließlich bereitwillig unter. Bei einem Mann von dem Selbstbewußtsein und der Emp­findlichkeit Nordaus ist das erstaunlich. Es hat sich so auch bei keiner anderen Figur aus der Führungsriege der Zionisten wieder­holt. Offenbar hat dieser Umstand zum einen damit zu tun, daß Nordau in Herzl den Visionär anerkannte und zum anderen per­sönlich die Verwirklichung des Zionismus erst in fernster Zukunft und nach Generationen erwartete. Jedenfalls gilt dies für die Zeit bis zur Balfour-Deklaration von 1917, und auf Grundlage dieser Erwartung konnte Nordau sich, auch in seiner Freundschaft zu Herzl, auf die Rolle des Ratgebers, öffentlichen Verteidigers und intellektuellen Repräsentanten des Zionismus einlassen, ohne di­rekt Funktionen in der Exekutive zu übernehmen, die ihn seine ge­liebte Unabhängigkeit und seine ökonomische Existenzgrundlage als Arzt, Journalist und Autor in Paris gekostet hätten.

Nicht nur hinsichtlich der Notwendigkeit der Gründung eines Judenstaates, in dem die höchsten kulturellen und wissenschaft­lichen Standards der fortgeschrittensten nichtjüdischen Staaten und Gesellschaften verwirklicht werden sollen, stimmen Herzl und Nordau überein. Sie teilen lange vor ihrer zionistischen Zusam­menarbeit weitgehend ihre Kultur- und Literaturideale. Keines­wegs ist der Einsatz Herzls für Nordau als Kulturfeuilletonisten der Neuen Freien Presse etwa ein zionistischer Freundschaftsdienst oder eine Art Belohnung für Nordaus Wendung zum Zionismus. Daß Herzl im August 1895 nach seiner Rückkehr von Paris nach Wien als Feuilleton-Chef der Neuen Freien Presse bei deren Her­ausgebern für Nordau eintritt und daß Nordau dann für das Feuil-

44 Vgl. Herzls Bericht über den 1. Zionistenkongreß, in: Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. II, S. 538-540.