Nordau und Herzl
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leton dieser Zeitung schreibt, ist kein Fall von innerzionistischer Protektion gewesen, sondern die Folge von wirklicher kollegialer Wertschätzung für Nordau.
Noch schärfer formuliert, und das ist nicht einmal eine gewagte These: Herzl und Nordau stimmen sogar, wenn wir ihre Briefe und Aufzeichnungen betrachten, hinsichtlich ihrer Schriftsteller- und Kulturideale weit stärker überein als in ihrem Verständnis von den Prioritäten des Zionismus. Denn Nordau distanziert sich, sehr zum Ärger von Herzl 45 , später von dessen Geheimdiplomatie und will statt dessen die Überzeugungsarbeit in den jüdischen Gemeinden forcieren. Was wiederum mit den unterschiedlichen Erwartungen beider über den Zeitraum bis zur Verwirklichung des Zionismus zu tun hat. Denn Herzl kann von der Verwirklichung des Zionismus noch zu seinen Lebzeiten träumen, Nordau nicht:
»Nordau glaubt, dass der Plan zur Realisirung dreihundert Jahre braucht.
Ich glaube: dreissig - wenn die Idee durchschlägt .« 46 Die beiden lernen sich Jahre vor der Entstehung des Zionismus in Paris kennen. Herzl trat im Oktober 1891 sehr kurzfristig seinen Posten als Paris-Korrespondent der Neuen Freien Presse an 47 Im März 1892, als er seine Familie nach Paris zu holen im Begriff ist, will Herzl Nordau zum Hausarzt seiner Familie machen. 48 Die beiden kannten sich also schon näher, und Nordau als psychopatho- logisch versierter Frauenarzt schien für Herzls kränkelnde Frau Julie wahrscheinlich besonders geeignet. Sie treffen sich nicht nur als Korrespondenten beruflich zu gegebenen politischen Anlässen, sondern auch privat. So wie Nordau es auch mit anderen Freunden praktizierte, ist bezeugt, daß er Herzl Teile seines Stückes Die Kugel vorlas 49 Diese Praxis des gegenseitigen Vorlesens der eigenen
45 Vgl. Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. II, S. 709f., Eintragung vom 24.12.1898.
46 Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. II, S. 280.
47 Vgl. Julius H. Schoeps, Theodor Herzl. Wegbereiter des politischen Zionismus, Göttingen / Zürich / Frankfurt 1975, S. 26.
48 Brief Herzls an seine Eltern vom 20.3.1892, in: Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. I, S. 496.
49 Brief Herzl - Arthur Schnitzler, 9.1.1895, in: Herzl, Briefe und Tagebücher,
Bd. I, s