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Dreyfus und die Folgen
literarischen Werke verrät eine Vertrautheit nicht erst seit 1895. Der Vorgang hat sich später mit vertauschten Rollen mit dem Manuskript von Der Judenstaat, schon Monate vor der Drucklegung, wiederholt: Herzl las es Nordau vor.
Umgekehrt vermittelt Nordau zwischen Duncker, dem Verleger von Entartung, und Herzl im Mai 1895 einen Autorenvertrag für dessen Essay-Sammlung Das Palais Bourbon. Er enthielt Herzls brillante, zu Recht berühmt gewordene Artikel über das politische Paris und seine Institutionen, die ursprünglich für die Neue Freie Presse geschrieben waren. Das alles geschah noch vor Niederschrift des ersten Entwurfes für den Judenstaat, die ohne Wissen von Nordau innerhalb weniger Tage im Juni 1895 erfolgte.
Bekanntlich wollte Emil Schiff, nachdem ihm Herzl seine Ideen für einen Judenstaat vorgetragen hatte, Herzl wegen geistiger Übererregung zu seinem Hausarzt Nordau in Behandlung schicken; was Herzl ablehnte. 50 Erst Mitte November 1895, als Herzl schon seit Monaten wieder nach Wien zurückgekehrt ist, wo er nunmehr das Feuilleton der Neuen Freien Presse verantwortlich leitet, wagt er anläßlich einer kurzen Paris-Reise, Nordau aus dem Manuskript von Der Judenstaat vorzulesen. Nordau ist wider Erwarten sofort für die Idee gewonnen: 51
»Paris 17 November [1895]
Mit Nordau gesprochen.
Nordau ist der zweite Fall blitzartigen Verständnisses. Der erste war Benedikt. Aber Nordau begriff als Anhänger, wie Benedikt zunächst als Gegner.
Nordau geht, glaube ich, mit durch Dick und Dünn. Er war am leichtesten zu erobern u. ist vielleicht die bisher werthvollste Eroberung. Er wäre ein guter Präsident für unsere Akademie oder Unterrichtsminister .« 52
Aber zu diesem Zeitpunkt war Nordau von Herzl schon lange als Pariser Kultur-Feuilletonist in der Redaktion und bei den Herausgebern der Neuen Freien Presse durchgesetzt worden. Als Herzl am 14. Februar 1896 in Wien Der Judenstaat publiziert, sind längst
50 Vgl. Alex Bein, Theodor Herzl. Biographie, Wien 1934, S. 221 f.
51 Alex Bein, Theodor Herzl, S. 243 f.
52 Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. II, S. 277.