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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Dreyfus und die Folgen

Briefe, persönliche Interventionen und Beziehungen. Die Seiten der Neuen Freien Presse blieben den Zionisten verschlossen, aber Bekanntschaften ließen sich vermitteln, neue Gesinnungsgenossen werben. In diesen Begegnungen gewinnt der politische Zionismus Konturen. So kannte auch Nordau den Bankier, Baron und Philan­thropen Moritz Hirsch (1831-1896), den Herzl am 2. Juni 1895 aufgesucht hatte. Schließlich war Hirsch der Geldgeber jenes land­wirtschaftlichen Ansiedlungsprojektes in Argentinien, das Nord- aus Berliner Freund, der Bakteriologe Wilhelm Loewenthal, für vor den Pogromen fliehende russische Juden organisiert und bis zu sei­nem unerwarteten Tod 1894 geleitet hatte. Nordau hatte dieses jü­dische Siedlungsprojekt mit Interesse verfolgt, sich indessen nie zu seinen Gunsten engagiert. Nun, nach Beginn der Dreyfus-Affäre, teilt er die Kritik Herzls an Hirschs philanthropischem Projekt, im­plizit auch an seinem toten Freund Loewenthal. Das Projekt war ohnehin schon in den größten Schwierigkeiten und brach ein Jahr später mit dem Tode Hirschs zusammen.

Für Herzl wie Nordau ging es nicht mehr um irgendeine Ansied­lung für jüdische Flüchtlinge in Argentinien oder anderswo, es ging um einen jüdischen Staat in Palästina. Dieser Staat mit eigener Ver­waltung und Armee sollte ein jüdisches Gemeinwesen für alle Ju­den, nicht nur Pogrom-Flüchtlinge, sondern auch die Assimilier­ten 54 des Westens sein. Und er sollte nicht abhängig sein von der Gnade irgendwelcher Philanthropen wie Hirsch und ihren Geld­spenden. Vielmehr sollten die jüdischen Massen sich selbständig zusammentun, arbeiten, selbst einen Staat und eine Ökonomie auf­bauen. Herzl wollte zur Vermeidung der Abhängigkeit von einigen reichen jüdischen Bankiers eine jüdische Nationalbank gründen, die die Ansiedlung in Palästina finanzieren sollte.

All dies 55 trägt Herzl schon im Juni 1895 dem Baron Hirsch vor,

54 Ich gebrauche hier entgegen dem heute eher üblichen, weil nicht pejorati­ven Gebrauch der neutralen Begriffe »Akkulturation« oder »Integration« der Juden die Begriffe »Assimilation« und »Assimilierte«, weil sie von Nordau und Herzl selbst verwendet werden. Begriffsgeschichtlich verdankt sich die pejora­tive Konnotation von »Assimilation« zu guten Teilen jener frühen und seitdem ständig wiederholten innerjüdischen Assimilationskritik durch die Zionisten.

55 Vgl. Schoeps, Theodor Herzl, S. 40-44. In den Tagebücnem finden sich die