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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Dreyfus und die Folgen

assimiliertesten Juden trotz juristischer Gleichstellung nie in vol­lem Sinne >richtige< deutsche, österreichische oder französische Staatsbürger sein könnten.

Herzl und seine Mitstreiter waren wütenden Attacken in Wort und Schrift ausgesetzt, die er jedoch in der Neuen Freien Presse überhaupt nicht, in der Oesterreichischen Wochenschrift nur bisweilen zurückweisen konnte. Deshalb gründete er als eigenes Wochen- und Kampfblatt der Zionisten Die Welt, deren erste Num­mer am 4. Juni 1897 in Wien erschien. Journalisten und Zeitungs­männer gab es in der ersten Generation der Zionisten schließlich genug. Nordau lieh der Sache des Zionismus nicht von Anfang an öffentlich seine Feder, aber im Juni 1897, sechzehn Monate nach Erscheinen des fudenstaates, bekennt er sich auch als Autor erst­mals offen zum Zionismus. In der zweiten Nummer der Welt ist unter dem Titel »Ein Tempelstreit« seine erste zionistische Schrift abgedruckt.

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Ein Tempelstreit

Nordaus Polemik Ein Tempelstreit ist eine Replik auf die Bro­schüre Nationaljudentum, die der liberale Wiener Oberrabbiner Dr. Moritz Güdemann gegen die Zionisten herausgebracht hatte. Nordau hält sich bei den inneren Widersprüchen der Broschüre nicht lange auf, aber ausführlich polemisiert er gegen Güdemanns Erklärung, die Juden seien kein Volk. Das gerade ist eine der unver­zichtbaren Positionen des Zionismus: Die Juden sind ein Volk. 68 Selbst wenn, wie Güdemann behauptet, die Juden in der Zerstreu­ung nach Zerstörung des Jerusalemer Tempels kein Volk mehr seien, so »würde der Antisemitismus ein ausreichender Grund

68 Max Nordau, Zionistische Schriften, Köln/Leipzig 1909, S. 5. Alle zionisti­schen Schriften Nordaus, die ich hier behandeln werde, wurden zunächst an anderem Ort, etwa den Stenographischen Protokollen der jeweiligen Zionisten­kongresse, publiziert, sind aber in dieser Ausgabe oder der 2. Auflage von 1923 am einfachsten greifbar.