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Dreyfus und die Folgen
heiraten, aber die Mutter Christines, ihre Brüder und ihr Onkel, der Superintendent Leberecht von Quincke, lehnen jede weitere Verbindung mit Juden ab, weil sie wegen des Antisemitismus um ihren Ruf und ihre gesellschaftliche Stellung fürchten und schon die »Versippung« mit dem getauften Juden Moser als Schmach betrachten. Es kommt zum Zerwürfnis. Der Kommerzienrath nimmt für seine Tochter und ihre Heiratspläne Partei und erkennt, daß sein Versuch, das Judentum durch totale Assimilation ans Deutsche loszuwerden, gescheitert ist, als seine Frau und sein Schwager ihn verlassen. Auch Kohn wird am Ende durch Christines Bruder Karl, einen Leutnant, beleidigt, zum Duell provoziert und fällt.
Leo Kohn und Christine Moser bleiben als Figuren blaß; das Stück tragend hingegen ist die Figur des Kommerzienrath Moser. Seine späte, tragische Einsicht ins Scheitern von Assimilation und Selbstaufgabe des Judeseins durch Taufe ist das Fazit des Stücks. Denn das Glück des jungen Paares wird durch den Antisemitismus der Umwelt, ja der eigenen Familie gestört und am Ende durch den Tod Kohns im antisemitisch motivierten Duell zerstört.
Wie nah die Problematik von Doktor Kohn nicht nur Nordaus zionistischen Positionen, sondern auch seiner persönlichen Problematik war, zeigt die Widmung eines Exemplars der zweiten Auflage des Stücks 78 an David Wolffsohn, den Freund Nordaus und Nachfolger Herzls als Haupt der zionistischen Exekutive: »Möge dieses zuckende Stück Leben meinem hochverehrten Freunde Herrn David Wolffsohn ein wenig gefallen. Köln, 29.Aug. 1906. M. Nordau.« Als Nordau das Stück schrieb, trieb ihn auch das Problem der Mischehe um, die ja sowohl seitens der Rasseantisemiten als auch seitens der jüdischen Orthodoxie, im Stück verkörpert durch die antisemitischen Korpsstudenten bzw. die orthodoxen Eltern von Leo Kohn, abgelehnt wird. Denn er hatte mit der protestantischen Anna Kaufmann eine Tochter und mußte sich Gedanken über die eheliche Legalisierung seines Liebesverhältnisses zu ihr machen. Anna Kaufmann berichtet in Max Nordau. Erinnerungen, daß Nordau ihr Angebot, zum Judentum zu konvertieren,
78 Max Nordau, Doktor Kohn. Bürgerliches Trauerspiel aus der Gegenwart, Berlin 2 1899. Das Exemplar findet sich, versehen mit einem ex libris David Wolff- sohns, in der Hebräischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem.