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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Dreyfus und die Folgen

tonte bei jeder Gelegenheit, dass ich nur aus rein technischen Gründen der Personen- u. Sachkenntniss den Vorsitz führe, dass ihm vor mir sonst unter allen Umständen der Vortritt gebühre. Das besserte seine Stimmung einigermassen, auch hatte zum Glück seine Rede mehr Erfolg als meine rein politische u. ich ging überall herum u. rief seine Rede als die beste des Congresses aus.« 80 Und noch einmal Herzl zu den näheren Umständen von Nordaus Rede am ersten Kongreßtag, Sonntag, 29. August 1897: »Ich gab Nordau das Wort. Er sprach herrlich. Seine Rede ist u. bleibt ein Denkmal unserer Zeit. Als er wieder zum Präsidial­tisch hinauf kam ging ich ihm entgegen u. sagte ihm: Monu- mentum aere perennius!« 81

Was hatte Nordau in seiner so gefeierten Rede gesagt? Anders als Herzls eher politische Rede über die Ziele des Zionismus, ist Nord­aus Kongreßrede eine Bestandsaufnahme. Sie soll ein Gesamtbild von der Verfassung der Judenheit am Ausgang des 19. Jahrhunderts geben und daraus die Notwendigkeit des Zionismus begründen. Ihr Ausgangspunkt ist die Feststellung der »Judennot« allüberall. 82 Da­bei hat die Judennot durchaus verschiedene Gesichter: ln Osteu­ropa, Nordafrika und Westasien konstatiert Nordau ein »qualvol­les Ringen um die Erhaltung des nackten Lebens. Im europäischen Westen ist den Juden der Kampf ums Dasein etwas leichter ge­macht.« Die Brot- und Obdachfrage, die Sicherheit von Leib und Leben martert die westeuropäische Judenheit weniger. » Hier ist die Not eine sittliche«, denn die westeuropäischen Juden leiden unter der täglichen Kränkung des Selbst- und Ehrgefühls durch Antise­miten. 83

Nordau beginnt mit einem Überblick über die Lage in Osteuropa. Die überwältigende Mehrheit der Juden in Rußland sei von der Ein­schränkung ihrer Bewegungsfreiheit betroffen und in wenigen De­partements zusammengepfercht. Das hat Massenauswanderungen zur Folge. In Rumänien sind die Juden vollkommen rechtlos den Gewalttaten des Pöbels ausgesetzt, vor allem aber sind sie bitter-

80 Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. II, S. 539.

81 Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. II, S. 540.

82 Nordau, Zionistische Schriften, S. 47.

83 Nordau, Zionistische Schriften, S. 48.