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Dreyfus und die Folgen
sie dann vom Antisemitismus geweckt und darauf gestoßen, daß sie ihre Ghettoheimat verloren, aber keine neue gefunden haben. Von ihren jüdischen »Landsleuten« sind sie als Assimilierte getrennt, von den christlichen werden sie weiterhin diskriminiert. »Das ist die sittliche Judennot.« 86 Sie ist bitterer als die leibliche, denn sie verbraucht die besten Kräfte durch die Unterdrückung und Verhüllung des innersten Wesens der Juden.
Für die bessergestellten Juden Westeuropas entfallen überdies die Tröstungen der Religion wie der Glaube an einen liebenden Gott oder den Messias. Der »Rassenantisemitismus« macht ohnehin auch die Taufe zur Farce, welche nur Lüge und »neue Mar- ranen« erzeugt, ohne die christliche Umwelt zu überzeugen. So wenden sich manche Juden dem Zionismus, wieder andere dem Sozialismus, dem »Umsturz« und der »Vernichtung alles Bestehenden« zu. Diese Umstürzler geben sich fälschlich der Hoffnung hin, der Judenhaß werde in die neue, nachrevolutionäre Welt nicht mittransportiert.
Kurz: Das Gesicht Israels am Ende des 19. Jahrhunderts ist entstellt, »die Juden sind in ihrer Mehrheit ein Stamm von geächteten Bettlern«. »Jüdische Solidarität« mit den eigenen Armen ist fast ganz verschwunden; die Assimilierten übernehmen am Ende die Vorurteile der Nichtjuden. Überall gelten die Juden als Sündenbock, ganz gleich, was sie tun. 87 So wird ihrer Armut zum Trotz die Sage von den Juden als Besitzer aller Reichtümer der Welt verbreitet. Gewiß gibt es »einige hundert überreiche Juden«, aber was haben die mit »Israel« zu tun, was mit der überwältigenden Mehrheit armer Juden, was mit den großen Geistern wie »Hillel, Philo, Ibn Gabirol, Jehuda Halevy, Ben Maimon, Spinoza, Heine«? 88 Die Reichen sind nur der »Hauptvorwand des neuen Judenhasses, der mehr wirtschaftliche als religiöse Gründe hat«.
Aber trotz dieser Einsicht in das Verblassen des christlich-religiösen Antijudaismus gegenüber einem wirtschaftlich motivierten
86 Nordau, Zionistische Schriften, S. 59.
87 Nordau, Zionistische Schriften, S. 61 f.
88 Nordau, Zionistische Schriften, S. 63. Hier beruft sich Nordau das erste Mal auf eine Zahl von jüdischen »großen Geistern«, mit denen er sich identifi-