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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Dreyfus und die Folgen

gern Recht diplomatische Verwicklungen befürchtet. 101 Aber Nordau berichtet prominenten Dreyfusards wie Bernard Lazare, Joseph Reinach oder Zola von dieser privaten Äußerung, welche die allgemeine Unschuldsvermutung im Fall Dreyfus nur bestärkte.

Auf jeden Fall ist Nordau aufgrund solcher Kontakte zu promi­nenten Dreyfusards und außerdem als Arzt von Angehörigen der deutschen Botschaft so exponiert, daß offensichtlich Anfang 1898, als publizistisch die Wellen wegen einer Revision des Dreyfus-Pro- zesses hochschlagen, seine Post von der französischen Geheim­polizei überwacht wird. Nordau wußte das und hat es Herzl be­richtet. Herzl hat ihm die Pläne der Verlegung der zionistischen Zentrale nach Paris und seine Begründung dafür, die er als Brief­entwurf an Nordau in sein Zionistisches Tagebuch notiert hat, des­halb nicht mit der Post geschickt, sondern vermutlich nur mündlich mitgeteilt. 102

Unter diesen Umständen hatte Nordau natürlich vollkommen recht, unabhängig von seinen persönlichen Gründen die Verlegung der Zentrale nach Paris abzulehnen. Die Post der zionistischen Zentrale wäre in der antisemitischen Hysterie um die Dreyfus-Af- färe mit Sicherheit polizeilich überwacht worden. Überdies wäre Nordau als Präsident und zugleich aber Ausländskorrespondent einer deutschen Zeitung, anders als Herzl in Wien, jederzeit von einer Ausweisungaus Frankreich durch die französische Regierung bedroht gewesen. Die französische Polizei oder Politik hätten leicht die zionistische Organisation lahmlegen können. Daher wäre die zionistische Zentrale in dem zugespitzt antisemitischen, wegen der Dreyfus-Affäre überhitzten und in den Augen Nordaus sogar gewaltbereiten Klima der französischen Hauptstadt unwill­kommen und gefährdet gewesen.

Daß Nordau diese Gründe nicht nur anführt, weil ihm die Bürde des Amtes zu schwer schien, sondern daß er tatsächlich die Situa­tion der Juden in Frankreich für extrem gefährdet hielt, läßt ein ein-

101 Anna Nordau, Max Nordau. Erinnerungen, S. 196f. Diese Schilderung des Verhältnisses von Nordau zu Schwartzkoppen konnte bisher allerdings nicht durch andere Dokumente erhärtet werden.

102 Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. II, S. 566-569; die Notiz über die ge- heimpolizeiliche Überwachung Nordaus S. 567 oben.