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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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II. Zionistenkongreß in Basel

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und jedenfalls wäre weder die ihm zur Last gelegte Schuld zu einer konstitutionellen Schuld aller Juden verallgemeinert wor­den, noch hätte das Bestreben, eine Wiederaufnahme des Verfah­rens herbeizuführen, so wütende Volksleidenschaften erregt. Der Fall Dreyfus hat einen Schleier weggezogen und verheimlicht ge­wesene Gesinnungen enthüllt. Er richtet sich als eine Mahnung und Lehre an diejenigen Juden auf, die durchaus noch immer an ihre endgültige, vorbehaltlose Aufnahme in die Volksgemein­schaft wenigstens der vorgeschrittensten Staaten des Westens glauben wollen .« 108

Nordau zieht die Lehre aus der Affäre Dreyfus: Der Antisemitis­mus verhindert trotz legaler Gleichstellung auf Dauer die vollkom­mene gesellschaftliche Integration der Juden selbst in den fortge­schrittensten Demokratien wie Frankreich. Der Zionismus ist für Nordau die gebotene Antwort auf diese Erkenntnis. Selbst in mo­dernen westlichen Staaten wie England und den USA, die bislang frei von Judenhaß waren, zeigten sich nämlich neuerdings seine Symptome. Nur in Belgien, Holland, Italien und in der Schweiz hätten die Juden nicht zu klagen. Aber diese Länder sind »glück­liche Inseln des Friedens im Ozean des Antisemitismus«. 109

Besonders betrüblich fällt Nordaus Schilderung des inneren Zu­standes der Judenheit aus: Sie befinde sich nach den furchtbaren Verwüstungen von 18 Jahrhunderten Galuth in einem Zustand der Todesstarre. Einzig der Zionismus erwecke das Judentum zu neuem Leben. »Er bewirkt dies sittlich durch Auffrischung der Volksideale, körperlich durch die physische Erziehung des Nachwuchses, der uns wieder das verloren gegangene Muskelju­dentum schaffen soll.« 110 Der »Abbröckelungsprozeß« im jüdi­schen Volk seit der Zerstörung des zweiten Tempels, der bis in die Niederungen der Assimilation im 19. Jahrhundert führte, bis zur Auflösung von Religion und Brauchtum, bis zu Rabbinern, die das »Im nächsten Jahr in Jerusalem!« aus dem Gebetbuch streichen ließen, bis zu »faulem Auch-Judentum und Bauch-Judentum«

108 Nordau, Zionistische Schriften, Bd. 1, S. 77.

109 Nordau, Zionistische Schriften, S. 78-80.

110 Nordau, Zionistische Schriften, Bd.I, S.83. Hier fällt erstmals der von Nordau geprägte Begriff des »Muskeljudentums«.