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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Dreyfus und die Folgen

der Bequemlichkeit und ehrlosen Feigheit, das den Antisemiten im­mer wieder die andere Wange hinhalte. Und diese »Scheinjuden« entdeckten ausgerechnet im Zionismus ihren größten Gegner! Für Nordau ist dieses assimilierte Judentum der Galuth geistig und moralisch tot. Es gibt daher nicht eine zionistische Partei im Juden­tum, vielmehr ist der Zionismus allein noch lebendiges Judentum. Der Zionismus verkörpert das Erbe des Volkes Israel. »In unserem Lager ist Israel! Ihr andern seid einzelne Trümmer«, schließt er seine Rede. 111

Auch diese Kongreßrede Nordaus kam bei den dieses Mal schon 400 anwesenden Delegierten des II. Zionistenkongresses gut an. Der Kongreß wird wieder ein publizistischer Erfolg, auch wenn es nicht gelingt, die jüdische Kolonialbank zu gründen. Es bildet sich in der Folge eine relativ klare Rollenverteilung zwischen Herzl und Nordau heraus, der zionistischen Führerfigur und dem selbst­ernannten »Soldat« der Bewegung: Herzl entwickelt nach dem zweiten Baseler Kongreß wieder starke diplomatische Aktivitäten, trifft im Oktober 1898 zunächst in Konstantinopel, dann am 2. No­vember in Jerusalem den deutschen Kaiser Wilhelm II. in einer Audienz. Doch das gewünschte deutsche Protektorat für die jüdi­sche Ansiedlung in Palästina kommt nicht zustande.

Währenddessen hält Nordau allerorten weit beachtete zionisti­sche Vorträge. So ist er am 26. Januar 1899 in Wien, wohnt bei sei­nem alten Freund und Kollegen Julius Frei, sieht Herzl, Marmorek, Schnirer und die Redaktion der Welt, streitet sich bei der Neuen Freien Presse mit den Herausgebern um seine Bezahlung und hält in einem überfüllten Saal vor über 2200 Personen eine seiner zioni­stischen Reden. 112 Schon zwei Tage später, am 28. Januar hält er in Berlin wieder einen Vortrag, dieses Mal vor 4500 Personen. Kaum findet er Zeit, von Jagow, der nun in Berlin residiert, zu besuchen und seine Redaktionsgeschäfte bei der Vossischen Zeitung zu erle­digen. 113 Und auf der Rückfahrt nach Paris legt er noch in Köln einen Zwischenaufenthalt ein und redet vor den Kölner Zionisten

Er engagiert sich bis an den Rand der totalen Erschöpfung. Am

Ul Nordau, Zionistische Schriften, Bd. I, S. 85-87.

112 Max Nordau. Erinnerungen, S. 203 f.

113 Brief Nordau - von Jagow, Paris, 29.12.1898, ZZA A 119/283/313.