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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Karl Kraus

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nerti, sie jubelt, wenn der cholerische Herr aus Paris-Budapest, verbittert durch den Mangel einer ärztlichen Praxis und durch die A ussichtslosigkeit des Zionismus, im Reiche der Unsterblich­keit herumzuspucken beginnt. (...) Und wovor man in Wien be­sonderen Respect hat, das ist die medicinische Tiefgründigkeit, die die künstlerischen Untersuchungen des Herrn Nordau aus­zeichnet. Er ordiniert wöchentlich einmal im Feuilletontheil der >Neuen Freien Presse<, schickt die Leute, die seiner Behandlung überliefert sind, ins Spital oder ins Irrenhaus, und bewährt einen klinischen Blick, um den ihn Hofrath Nothnagel beneiden könnte.« 22

Karl Kraus begreift bei aller Polemik sehr gut, daß es der ärztliche Gestus Nordaus ist, der das bürgerliche Publikum der Neuen Freien Presse beeindruckt, suggeriert der »klinische Blick« doch die Wissenschaftlichkeit dieser Kritiken und vermittelt die Sicher­heit, daß es dieser Kritik nie um immanentes Verstehen, sondern um äußerliche, weltanschaulich unerschütterte Be- und Verurtei­lung von Literatur und Kunst geht.

»Herr Nordau, der in Zusammenhang mit der Art, wie unser Intelligenzblatt moderne Literatur betreibt, wohl eingehenderer Betrachtung wert ist, sei heute nur als Autor eines überraschen­den Wortes erwähnt. Der literarische Metzger hat wieder einmal das Bedürfnis gefühlt, seine tiefinnerliche Kunstfremdheit mit medicinischen Floskeln zu verbrämen, und die Wiener Börsea- ner diesmal vor der Lectüre der Maupassant, Edmont de Gon­court und Baudelaire gewarnt .« 23

Besonders erregt Kraus eine Aktion Nordaus und anderer Heine- Verehrer auf dem Friedhof Montmartre. Nordau war, ganz im Ein­klang mit der Heine-Bewunderung besonders unter deutschen Ju­den, seit frühester Jugend ein Verehrer Heines, den er für den »größten Lyriker der Weltliteratur - Goethe immer ausgenom­men« hielt . 24 In seinen ersten Pariser Jahren hatte er Mathilde Heine noch mehrmals aufgesucht und nun mit einigen Freunden einen Verein organisiert, der nach deren Tod die Grabstätte Heines

22 Die Fackel, Heft 64 (1901), S. 15f.

23 Die Fackel, Nr. 9 (1899), S. 21.

24 Brief Nordau-von Jagow, Paris, 2.6.1892, ZZAA119/283/78.